"Elektrisierendes Thema der Gesellschaft"

Nach ARD-Film "Gott" von Schirach: Ethik-Experte Anton Losinger zur Diskussion um assistierten Suizid

25.11.2020 | Stand 04.12.2020, 3:33 Uhr
Eine fiktive Sitzung des Ethikrates war die Grundlage des Fernsehspiels "Gott" von Ferdinand von Schirach: Richard Gärtner (rechts) will sterben und hat das Gremium angerufen. −Foto: Julia Terjung, ARD Degeto, dpa/Klenk

Augsburg - Neun Monate nach dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe macht der ARD-Film "Gott" nach dem Buch von Ferdinand von Schirach den assistierten Suizid wieder zum Diskussionsthema.

In Schirachs Text werden viele Fragen um das selbstbestimmte Sterben angesprochen. Im Film waren die Zuschauer aufgefordert, abzustimmen. 70,8 Prozent waren am Ende dafür, dass die Hauptfigur, der fiktive 78-jährige Richard Gärtner, sterben darf. Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger (63), ausgewiesener Ethik-Experte und von 2005 bis 2016 Mitglied des deutschen Ethikrates, nimmt im Interview Stellung zum Film und zur Diskussion.

Herr Losinger, die Zuschauer haben mehrheitlich entschieden, dass Richard Gärtner sterben dürfe.
Anton Losinger: Für mich persönlich war das dramatisch hohe Abstimmungsergebnis zur Suiziderlaubnis nicht überraschend. Ich hätte persönlich sogar mit einem noch höheren Ergebnis gerechnet. Denn die Debatte um die Fragen des Lebensendes, die Fragen von Palliativmedizin und Selbstbestimmung im Sterben sind ein elektrisierendes Thema unserer Gesellschaft geworden. Die Gesellschaft wird älter. Krankheiten und altersbedingte Pflegesituationen häufen sich, Demenzerkrankungen machen ratlos. Deshalb ist dieses Thema Schirachs unweigerlich im Zentrum des Interesses.

Und das, obwohl der Tod nach wie vor ein tabuisiertes Thema ist.
Losinger: Das Thema Tod war und ist ein Tabuthema. Unsere Gesellschaft befindet sich auf einem Lebenstrip, ist sogar im Blick auf Schönheit und Livestyle geradezu eine Designergesellschaft. Aber viele Menschen in einer älter werdenden Gesellschaft merken, dass die Frage des eigenen Sterbens unausweichlich ist.

In dem Fernsehspiel tritt eine Juristin auf, die auch den ersten Abschnitt unseres Grundgesetzes in den Blick nimmt: Würde und Schutz des menschlichen Lebens.
Losinger: Mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dieses Jahres ist de facto ein neues Kapitel der Rechtsgeschichte aufgeschlagen. Die ersten Abschnitte unserer Verfassung standen bisher immer für den Grundsatz, dass Staat und Gesellschaft unweigerlich zum Schutz der Würde und des Lebensrechts verpflichtet sind. Nun hat das Bundesverfassungsgericht eine andere Saite angeschlagen: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und schließt auch die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und zudem die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Das ist ein Perspektivenwechsel.

Ferdinand von Schirach lässt einen Bischof, einen Mediziner und eine Juristin Argumente für und wider den Suizid vorbringen.
Losinger: Bei aller Schemenhaftigkeit der Positionen fragt man sich: Was nutzt das Argument eines Bischofs und Theologen, Gott sei der Herr des Lebens, wenn mehr und mehr Menschen nicht mehr an Gott glauben. Was nutzt die Perspektive des Juristen und die Berufung auf die Werte der Verfassung, wenn der Staat von Voraussetzungen lebt, die er sich selbst nicht garantiert. Und schließlich der Mediziner, der sich auf die ehrenhaften Aspekte des Hippokratischen Eides seiner Standesordnung beruft: Was nutzt es, wenn Medizin und Ärztekammern selbst zu Treibern der Sterbehilfedebatte mutieren. Diese drei Argumentationen waren für mich nicht überraschend, sondern zeigen die Risse des Systems.

Hätten im Film nicht die persönlichen Argumente der Angehörigen, angesichts direkter Betroffenheit, ebenfalls auf den Tisch gehört?
Losinger: Ich denke, dass hier der entscheidende Ansatzpunkt liegt, der in meinen Augen auch das menschliche Antlitz einer Gesellschaft herausfordert. Die Frage nach der Verletzlichkeit der Entscheidungssituationen am Lebensende und deren psychische Not stellen den Spielraum unserer persönlichen Freiheit und unserer Verantwortung als Gesellschaft auf die Probe. Freiverantwortlicher Suizid ist keine Großtat menschlicher Freiheit, sondern ein Hilferuf an die Gesellschaft. Nicht nur das bekannte "Nationale Suizidpräventionsprogramm der Bundesregierung", sondern auch das Gespräch mit psychologischen und psychotherapeutischen Trägern und nicht zuletzt mit Seelsorgern, insbesondere den Partnern der Telefonseelsorge geben darüber Auskunft: Im Grunde genommen ist der Suizidbeschluss immer ein Ausdruck tiefer menschlicher Not.

Gegen den Bischof wurde im Film argumentiert, er dürfe angesichts des Missbrauchsskandals hier nicht urteilen: Berechtigte Kritik?
Losinger: Wo eine Kirche selber Unrecht tut, treffen die berechtigten Vorwürfe zu. Und sie dürfen auch im Namen der Opfer öffentlich erhoben werden. Aber wo ein Argument richtig ist, gerade im Blick auf die Hilfe für Menschen in existenzieller Not, da steht die Kirche genauso wie die Medizin und die Gesellschaft insgesamt in der Pflicht, klar und deutlich Hilfe für Menschen in Not anzumahnen und gegen Unrecht zu handeln.

Kann es aus ethischer Sicht ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Sterben geben?
Losinger: Ich warne davor, zu einem selbstbestimmten Sterben zu raten, weil die natürliche Bezogenheit jedes Menschen, die solidarische Verbundenheit, dagegen spricht. Jeder Mensch, der beschließt, selbst sein Leben zu beenden, muss wissen, wie viel Leid und Not er allein für die engsten ihn umgebenden Menschen erzeugt. Die Diskussion des freiverantwortlichen Suizids muss immer in Beziehung stehen zu anderen Menschen. Kein Mensch ist eine Insel. Wir müssen zudem sehen, dass in Suizidsituationen immer tiefgreifende existenzielle und psychische Not zur Sprache kommt. Unsere Antwort muss lauten: In den allermeisten Fällen geht es um einen Hilferuf an die Gesellschaft und keine autonome Tat der Freiheit.

Wechseln wir zur Ärzte-Sicht: Diese sind wieder in einer Dilemma-Situation. Die Bundesärztekammer spricht sich deutlich dagegen aus, Menschen beim Sterben zu helfen.
Losinger: Frank Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekammer, sagt: Die Beihilfe zum Suizid gehört nicht in den Koffer des Arztes. Der Arzt ist aufgrund des hippokratischen Eides dazu bestellt, zu helfen. Deswegen warnt Montgomery davor, dass Ärzte vom Helfer zum Vollstrecker werden. Ich würde diese Haltung des Weltärztebundes für äußerst substanziell halten, nehme aber auch nüchtern zur Kenntnis, dass die Fundamente brüchig und die Mehrheiten fragil geworden sind. Auch bei den Ärzteverbänden hat sich der Zeiger der Sterbehilfedebatte weitergedreht.

Müssen wir uns angesichts des Urteils auf eine ähnliche Struktur einstellen, wie wir es aus der Schweiz und den Niederlanden kennen?
Losinger: Vor dem Hintergrund der Lebensrechts- und Würdeperspektive unserer Verfassung und des Menschenbildes unseres Grundgesetzes kann die Idee der Legitimierung des freiverantwortlichen Suizids kein Ansatz zur Lösung sein. Sie multipliziert vielmehr das Problem. Primär muss die medizinische und soziale Perspektive und die Bereitstellung lebensrettender Maßnahmen allererste Priorität haben. Hier würde ich mindestens zwei konkrete Elemente benennen: die Chance der Palliativmedizin, die vor der Angst vor großen Schmerzen befreit, und das Hospiz. Die Antwort einer humanen Gesellschaft und eines lebensrechtsorientierten Verfassungsstaates auf die Herausforderungen der Sterbehilfedebatte kann nur lauten: Hilfe zum Leben statt Forcierung von Sterbehilfe.

Was wünschen Sie sich für die Diskussion um das Thema Suizid in unserer Gesellschaft?
Losinger: Albert Einstein sagte einmal: "Wir leben in einer Zeit vollkommener Mittel aber verworrener Ziele. " Wenn - wie die christliche Tradition immer sagt - die Stunde des Sterbens die wichtigste Stunde des menschlichen Lebens ist, dann sollte keine Mühe zu groß sein, Menschen in dieser finalen Phase eine behütete, lebenswerte Umgebung und eine liebevolle Begleitung im Sterben zu ermöglichen. Das lateinische Wort "pallium" bedeutet ja auf Deutsch "Mantel. " Welche Lebensqualität und Sinnperspektive wäre es, wenn es gelänge, sterbende Menschen in einen bergenden Mantel zu hüllen, und so der Not des Suizidwunsches eine behütete, begleitete und tröstende Lebenssituation am Lebensende entgegenzustellen?

DK

Das Gespräch führte Marco Schneider.