Stuttgart
Ein intimes Bekenntnis

Antrittskonzert: Teodor Currentzis ist der neue Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters

21.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:14 Uhr
Gefeiertes Debüt: Teodor Currentzis, der neue Chefdirigent des SWR-Symphonieorchesters, bei seinem ersten öffentlichen Auftritt im Stuttgarter Beethovensaal am Donnerstagabend. −Foto: Creutziger/SWR

Stuttgart (DK) Ein Antrittskonzert ist immer ein gewichtiges Ereignis für das Publikum und besonders für den Künstler.

Teodor Currentzis, der vielleicht einzige wirkliche Superstar unter den zeitgenössischen Dirigenten, hat für sein Eröffnungskonzert als Chefdirigent des neu gebildeten SWR-Symphonieorchesters die dritte Sinfonie von Gustav Mahler ausgewählt, dieses weltumfassende, gigantische Gebilde aus Musik gewordener Philosophie und Bildern überwältigender Naturschönheit. Warum gerade diese Sinfonie? Currentzis beantwortet diese Frage in einem kleinen Video auf der Homepage des SWR. Und verrät dort, dass diese Musik seine Jugend begleitet hat, dass sie Ausgangspunkt war für die Sehnsucht, Komponist zu sein, dass sie zu tun hat mit all seinen Niederlagen in seinem Leben. Vor allem aber, dass diese Musik für ihn eine zutiefst persönliche Äußerung ist, dass es um Intimität geht.

Noch deutlicher wird der 46-jährige Grieche zwei Tage vor dem Konzert im Currentzis-LAB, einem neuen, ganz und gar auf den Dirigenten zugeschnittenen Format der Konzerteinführung. Hier konzentriert sich Currentzis fast ausschließlich auf eine Analyse der ersten Takte des Schlusssatzes der Sinfonie - leise, innige Töne, Streichersamt von zerbrechlicher Schönheit, tief empfundener Seelenklang. Von diesem Schlusssatz aus gestaltet Currentzis die sechssätzige Sinfonie, von dieser Apotheose des Göttlichen in Form einer alle Wunden heilenden Liebe.

Mahlers dritte Sinfonie ist aber auch ein symphonisches Schlachtross von alles zermalmendem orchestralen Getöse, von überirdisch wuchtigem Blechbläser-Wirbel. Kaum ein Werk der Musikgeschichte ist so groß besetzt. Allein das marschartige Anfangsmotiv wird von acht Hörnern gespielt. Und Currentzis bietet ein gigantisches Orchester im Stuttgarter Beethovensaal auf, er lässt die Symphoniker toben und trubeln, was das Zeug hält.

Aber gerade darum geht es ihm nicht wirklich. Die ergreifendsten Momente sind genau die anderen. Wenn das Orchester fast verstummt. Wenn nach dem Hauptmotiv kaum mehr hörbares, unheimlich-fahles Getrommel in den Saal kriecht. Wenn die Oboe den griechischen Gott Pan imitiert und tänzelt. Und wenn die Geigen im Schlusssatz so leise klingen, dass es schon fast unheimlich ist. Da ist Currentzis' eigentliche Botschaft zu spüren: Dass in dieser Welt nicht die rauschhaften Explosionen der großen Konflikte zählen, nicht der wilde Trubel der Natur, sondern allein die Versenkung, die Verinnerlichung.

Aber wie ist es möglich, in einem so großen Saal, vor 2200 Besuchern, mit einem so gigantischen Klangkörper den kammermusikalischen Zauber der Intimität zu entfalten? Zumal mit einem Orchester, das längst nicht so auf Currentzis eingeschworen ist wie das von ihm selbst gegründete Ensemble MusicAeterna, mit dem er im vergangenen Jahr in Ingolstadt bei den Audi-Sommerkonzerten eine ebenso radikale wie ergreifende Version von Mozarts Requiem präsentierte.

Nun, was Currentzis an diesem Abend in Stuttgart zeigt, ist wie ein ständiges Ringen um den richtigen Tonfall. Um den wahren Ausdruck, um das richtige Pianissimo. Es ist geradezu erschütternd zu erleben, wie die Musiker im langsamen Beginn des sechsten Satzes, der Schluss-Verklärung, um jeden Ausdruck kämpfen, wie sie Ton für Ton hochflexibel die Farbe, den Charakter der Musik verändern. Wie sie die Akkorde ertasten, erfühlen, ihnen immer wieder neue Bedeutung verleihen. Und aus der choralartigen Musik, die so leicht furchtbar banal klingen kann, Funken der Inspiration herausschlagen.

Es ist faszinierend zu erleben, wie im zweiten Satz, in dem es um die Welt der Pflanzen geht, jede Phrase fast schon überartikuliert herüberkommt, und das Orchester doch noch nicht so wienerisch tänzelt, wie es Currentzis vielleicht vorschwebt. Und man ist hingerissen von der unglaublichen Ruhe, die der große Dirigent im vierten Satz zelebriert, wenn Gerhild Romberger wunderbar Verse aus Nietzsches "Zarathustra" singt. Und überhaupt: Currentzis dirigiert die gesamte Sinfonie so prägnant, so drahtig und durchsichtig wie man Mahler wohl kaum je zuvor gehört hat.

Die Musiker bewältigen diesen enormen Kraftakt, man spürt, dass sie wirklich alles an Intensität in diese Sinfonie legen, die sie besitzen. Nach einer Probe soll der Engischhornist tränenüberströmt den Raum verlassen haben, weil er den Schlusssatz nicht spielen kann, ohne völlig überwältigt zu sein.

Es war ein Risiko für Currentzis, sich als Chefdirigent auf ein Tariforchester einzulassen. Auf einen Klangkörper mit geregelten Dienstzeiten, mit dem man keine Probe um Mitternacht ansetzen kann. Currentzis ist bereits krachend gescheitert, weil große Orchester wie die Wiener Philharmoniker sich nicht auf seinen Antitraditionalismus einlassen wollten. Aber: Nach diesem Einstand sollte man umdenken. Der Currentzis-Effekt lässt sich nicht nur mit Spezialorchestern wie MusicAeterna verwirklichen, er ist übertragbar ins Musikestablishment. Currentzis, diese aufregendste, wegweisendste Figur im derzeitigen Klassik-Musikbetrieb, der Werke von Rameau über Mozart und Beethoven bis hin zu Strawinsky in neuem Licht erscheinen lässt, dieser große Dirigent kann auch mit einem ganz normalen Rundfunkorchester Wunder wirken. Besser hätte sein Einstand mit den SWR-Symphonieorchester kaum gelingen können.

Ein Mitschnitt des Konzertes kann auf www. swr. de angesehen werden. Am Sonntag, 23. September, wird das Konzert um 9 Uhr im SWR-Fernsehen gesendet.

Jesko Schulze-Reimpell