Ingolstadt
Die säkulare Orgel

Wayne Marshall würdigt den großen Musiker Leonard Bernstein im Ingolstädter Münster

03.09.2018 | Stand 23.09.2023, 3:58 Uhr
Orchestraler Sound: Wayne Marshall vor seinem Konzert am Sonntagabend im Ingolstädter Münster. −Foto: Schulze-Reimpell

Ingolstadt (DK) Die Orgel ist das sakrale Instrument schlechthin. Die Klänge der riesenhaften Pfeifen strahlen eine überirdische Schönheit aus. Niemals sonst ist Musik so heilig. Aber die Orgel vermag mehr, sie kann auch einen gänzlich anderen Charakter annehmen. Etwa wenn ein Musiker wie Wayne Marshall im Liebfrauenmünster auf der Orgelbank der Klaisorgel sitzt. Der gebürtige Brite gastierte an diesem Sonntag bei den Ingolstädter Orgeltagen.

Wayne Marshall ist eine Ausnahmeerscheinung. Sicher, er hat das Orgelspiel gelernt wie die meisten anderen Organisten. Aber sein Verständnis des größten aller Instrumente ist ungewöhnlich. Nicht um den heiligen Ernst geht es ihm, sondern um die orchestrale und die virtuose Qualität des Instruments. Er liebt es, mit grandiosen Klängen das Münster erbeben zu lassen. Wie riesige Wellen strömen die Akkorde in den Kirchenraum, ohrenbetäubend, benebelnd, bis die Zuhörer sich in den Klängen verlieren. Oder er brilliert mit solcher Fingerfertigkeit und Schnelligkeit an den Tasten, als wollte er das Publikum vor allem verblüffen. Ungewöhnlich ist daher auch das Repertoire, das Wayne Marshall für den Konzertabend herausgesucht hat. Nur ein einziges wirklich sakrales Werk ist dabei, der dritte Satz aus "L'Ascension - Die Himmelfahrt" von Olivier Messiaen. Aber auch dieses Stück klingt unter seinen Händen weniger heilig als machtvoll dröhnend.

Ansonsten ist der Abend fast so etwas wie eine Huldigung an Leonard Bernstein, der vor wenigen Tagen 100 Jahre alt geworden wäre. Wayne Marshall ist für diese Aufgabe wie geschaffen. Denn er ist ein Geistesverwandter des Amerikaners. Genauso wie Bernstein ortet sich Marshall stilistisch im Grenzbereich zwischen Klassik und Jazz ein. Und auch Marshall ist gleichermaßen Dirigent, Pianist, Komponist (und zusätzlich noch Organist) von Rang.

Marshall würdigt Bernstein, der selber keine Orgelwerke hinterlassen hat, mit zwei Werken: einer Bearbeitung der Ouvertüre zum Musical "Wonderful Town" und der Improvisation "Hommage à Lennie Bernstein". Wobei die Improvisation wesentlich überzeugender gelingt als der Original-Bernstein. Denn Marshall geht die Ouvertüre viel zu schwerblütig an, treibt den schrägen Takten den Witz aus.

Anders die Improvisation. Hier verblüfft Wayne Marshall damit, wie er immer wieder bekannte Themen, etwa aus der "West Side Story" einführt, aber sie völlig anders klingen lässt, weil er sie verfremdet, sie manchmal viel zu langsam spielt oder nur ein Bruchstück in den Strom der Töne integriert. Und immer wieder ertönen, wie es sich für ein Geburtstagsständchen gehört, einige Takte aus "Happy Birthday to You" auf. Das alles ist gleichermaßen kunstvoll raffiniert, virtuos und unterhaltsam kombiniert.

Ganz ähnlich klingt die "Intrata improvisee", die das Konzert einleitet. Auch hier ein flirrender Strom der Töne, pianistisch flinker Lauffiguren, ständig in andere Klangfarben getaucht aus denen einige jazzige Motiv-Fetzen wie Bläsereinsätze herausragen. Wayne Marshall ist zweifellos ein genialischer Improvisator.

Aber auch die spätromantischen Teile des Konzerts sind eindrucksvoll. Am meisten vielleicht die "Orgelsymphonie I" von Louis Vierne. Marshall lässt hier die Klaisorgel röhren und donnern, grollen und stürmen, dass es eine Freude ist. Die Orgel mag ein heiliges Instrument sein. Sie kann aber auch ein zutiefst irdisches Vergnügen an den orchestralen Klangfarben vermitteln.

Jesko Schulze-Reimpell