Die Zukunft von gestern

31.01.2020 | Stand 02.12.2020, 12:04 Uhr
Siri und Alexa heißen die Sprachsteuerungen heute. In Stanley Kubricks "2001" (oben) regelt ein Sprachsteuerungssystem die Grenzkontrollen im Weltall. Die aktuelle Debatte kreist darum, ob eine exakte Berechnung der Zukunft durch Big Data (unten) möglich ist. −Foto: dpa, obs/Vodafone Institut für Gesellschaft und Kommunikation GmbH

Rainer Werner Fassbinders Film "Welt am Draht" aus dem Jahr 1973 gilt als Science-Fiction-Klassiker. Doch die Gegenwart hat diese beschriebene Zukunft längst eingeholt. Wie auch in H. G. Wells' "Zeitmaschine" oder Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum". Wir haben sie einem Realitycheck unterworfen und mit Elke Seefried vom Institut für Zeitgeschichte über Zukunftsforschung gesprochen.

"Die Zukunft war früher auch besser", schrieb Karl Valentin. Aber wie war die Zukunft von gestern eigentlich? Wenn man die meisten Science-Fiction-Romane und -Filme betrachtet, hat man das Gefühl: Meistens lagen sie daneben. Oder irrt da der Eindruck, Frau Seefried?
Elke Seefried: Es ist sehr schwer, vergangene Prognosen daraufhin zu bewerten, ob sie eingetroffen sind. Jede veröffentlichte Prognose verändert ja auch die Gegenwart. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Studie des Club of Rome "Grenzen des Wachstums", die 1972 erschien. Sie löste die moderne Umweltbewegung aus, und diese veränderte die Welt.

Und war nun die Zukunft früher besser?
Seefried: Das kommt darauf an, was wir unter "besser" verstehen. Sicherlich überwogen in den 1960er-Jahren die großen Technikentwürfe, ja herrschte zum Teil eine Technikeuphorie, doch gehen wir heute pragmatischer und reflektierter mit der Zukunft um, und das ist in gewisser Weise auch ein Fortschritt.

Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autoren versuchen, die Zukunft zu ergründen, auch wenn sie grundsätzlich sehr unterschiedlich arbeiten. Wer ist in seinen Vorhersagen präziser?
Seefried: Science-Fiction ist ja eine literarische Herangehensweise, die allerdings wissenschaftliche Erkenntnisse durchaus einbezieht. Sie hatte ihren ersten Aufschwung um 1900 etwa mit H.G. Wells und mit Romanen wie "Die Zeitmaschine". Das war zunächst hauptsächlich ein Versuch, die Zukunft weiterzudenken in einem eher fantastischen Modus, da ging es nicht um eine wissenschaftlich präzise Voraussage. Die Zukunftsforschung hat einen durchaus wissenschaftlichen Anspruch. In einem längeren Lernprozess hat sich allerdings gezeigt, dass exakte Prognosen der Zukunftsforschung eben nicht möglich sind. Die Zukunft hängt von menschlichen Handlungen ab, und die können sich sehr schnell verändern.

Gab es denn überhaupt Prognosen, die sehr exakt zutrafen?
Seefried: In den 60er-Jahren wurden bestimmte technische Entwicklungen durchaus richtig vorausgesagt. Im Grunde wurden die Entwicklungen extrapoliert, das heißt, ein bestimmter Trend wurde weitergedacht. Dazu gehört die Entwicklung des Computers, die etwa der deutsche Kybernetiker Karl Steinbuch sehr gut beschrieben hat. Er hat Bücher über die sogenannte "informierte Gesellschaft" geschrieben und dabei darauf hingewiesen, es werde zentral abrufbare Informationsbanken geben - also eine Prognose des Internets.

Gibt es auch treffende Beispiele für das Versagen der Zukunftsforschung?
Seefried: Von der amerikanischen Rand Corporation wurden 1964 im Rahmen der ersten sogenannten Delphi-Studie einige Voraussagen getroffen, die heftig diskutiert wurden, aber niemals eingetroffen sind. Zum Beispiel der Flug zum Mars, die Symbiose von Mensch und Maschine, die chemische Kontrolle des Alterns, das direkte Einsetzen von Informationen in das Gehirn. All diese ziemlich technophilen Prognosen haben sich auch deswegen nicht bewahrheitet, weil Wissenschaft und Politik inzwischen reflektiert haben, dass nicht alles umgesetzt werden muss und darf, was technisch möglich ist.
Haben Science-Fiction und Zukunftsforschung eine gesellschaftskritische Funktion?
Seefried: Ja, so versteht sich die Zukunftsforschung auch selber. Das war etwa auch die Intention des Club of Rome. Globale Entwicklungen sollten durchgerechnet werden, Interdependenzen betrachtet werden zwischen industriell-technischen Entwicklungen, Bevölkerungswachstum und begrenzten Rohstoffen. Das alles führte zu einer Warnungsprognose.

Was verraten uns Science-Fiction und Zukunftsforschung über die Gegenwart?
Seefried: Grundsätzlich ist jede Prognose aus der Gegenwart heraus erstellt worden. Die Prognosen greifen fast immer aktuelle Debatten auf, reflektieren sie. So ging es in den 60er-Jahren um Raumfahrt und Atomkraft, also brandneue technologische Entwicklungen. In den 70er-Jahren kam die Diskussion um die Umweltverschmutzung auf und wurde von der Zukunftsforschung aufgenommen und verstärkt.

Was fasziniert die Menschen so an Science-Fiction?
Seefried: Jeder muss und will vorausblicken. Daher gibt es ein großes Bedürfnis, nicht nur die eigene Zukunft zu planen, sondern auch in einem literarischen und fantastischen Modus alternative Zukünfte durchzuspielen.

Trotz dieses Grundbedürfnisses: Science-Fiction gibt es eigentlich erst seit dem 19. Jahrhundert.
Seefried: Genau. Das moderne Verständnis von Zukunft entstand vor allem um 1800, in der sogenannten "Sattelzeit", um einen Begriff des Historikers Reinhart Koselleck zu verwenden. Das ist die Zeit, als sich - so Koselleck - die Erfahrungsräume von den Erwartungshorizonten trennten. Bis in die frühe Neuzeit hinein lehnten sich die Erwartungen an das Leben ganz eng an die Erfahrungen an. Die Bauern arbeiteten auf dem Feld, sie folgten dem Kreislauf der Natur, von Säen und Ernten, ohne dass grundlegende Änderungen zu erwarten waren. Durch die Aufklärung, die moderne Naturwissenschaft und die technischen Entwicklungen der Zeit wurde die Zukunft ein wesentlich offenerer, nicht festgelegter Raum. In dieser Zeit der Aufklärung traten auch religiöse Bezüge zurück, das Individuum und seine selbstbestimmte Entfaltung wurden wichtiger.

Hat das auch damit etwas zu tun, dass sich das Rad der Zeit immer schneller zu bewegen scheint?
Seefried: Jede Generation erlebt eine eigene Beschleunigung. Das ist eine subjektive Empfindung. Dass es aber in Hinsicht auf die technische Entwicklung zuletzt Beschleunigungen und Sprünge gab, das lässt sich durchaus zeigen. Man denke nur an das 19. Jahrhundert mit der Entdeckung der Eisenbahn und Dampfmaschine. Oder zuletzt die Computerisierung unserer Welt, die auch das Arbeitsleben verändert.

Die Zukunftsforschung könnte jetzt eigentlich wieder einen Aufschwung erleben - durch Big Data.
Seefried: Da gibt es tatsächlich eine aktuelle Debatte, einerseits mit Blick auf die Kontrolle des Menschen durch Internetkonzerne, andererseits im Hinblick auf eine exakte Berechnung der Zukunft durch Big Data, durch hochleistungsfähige Rechner, die riesige Datenmengen bearbeiten können. Ich bin da aber skeptisch. Zukunft kann man letztlich nicht berechnen, selbst wenn die computerbasierten Simulationen inzwischen viel komplexer sind. Aber wir gestalten immer noch die Zukunft selber, und es kommt auch auf unsere Werte und Zielsetzungen an, die wir verfolgen wollen.

Bei der allgemeinen Skepsis gegenüber der Zukunftsforschung: Wie verlässlich sind die Vorhersagen der Klimaforscher?
Seefried: Die Klimaforschung versteht sich als eigene Forschungsrichtung neben der Zukunftsforschung. Sie beschränkt sich allerdings weitgehend auf ein Gebiet, das eher naturwissenschaftlich erfasst wird. Insofern kann sie genauer arbeiten als bei einer Simulation gesellschaftlich-politischer Prozesse. Aber auch bei Klimaprognosen hängt vieles davon ab, wie wir uns verhalten. Insofern liegt es an uns, ob die Modelle zutreffend sein werden.

Haben Sie einen Lieblings-Science-Fiction-Roman?
Seefried: Die "Zeitmaschine" von H. G. Wells halte ich nach wie vor für eine besonders anregende Lektüre. Vor allem, weil hier nicht nur technische Entwicklungen entworfen wurden, sondern weil es auch eine sehr gesellschaftskritische Analyse ist. Denken Sie an die Ober- und Untermenschen, die Wells in seinem Buch schildert, Menschen, die unter der Erde bzw. auf der Erde leben dürfen. Das ist als harte Kritik an der britischen Klassengesellschaft zu verstehen. Es ist auch eine Reflexion über den Sozialdarwinismus. Das macht den Roman auch heute noch lesenswert.

Das Interview führte
Jesko Schulze-Reimpell.


ZUR PERSON
Elke Seefried hat seit 2014 die Professur für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg inne und ist zugleich stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) in München und Berlin.
 


ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT 
Geschichte: 
1989 reiste Filmheld Marty McFly (Michael J. Fox) gemeinsam mit dem zerstreuten Erfinder Doc Brown (Christopher Lloyd) in eine weit entfernte Zukunft, die heute schon wieder fünf Jahre zurück liegt. Dank der perfekten Mischung aus Action und Humor wurde „Zurück in die Zukunft“ Kult und brachte es auf zwei Fortsetzungen. 
Realitätsgehalt: 
Einige der Zukunftserfindungen wie Videochats, Flachbildschirme und 3-D-Filme sind heute längst Realität. Schuhe muss man allerdings nach wie vor selbst schnüren. Fliegende Autos? Fehlanzeige!  Und weil der „Hydrator“, der einen kleinen Rohling in Sekunden in eine heiße Pizza verwandelt, nicht existiert, muss man immer noch selber backen oder den Pizzaservice bemühen.   Immerhin: An Martys  coolem Hoverboard wird tatsächlich getüftelt. aw/Foto: RTL II

2001: ODYSSEE IM WELTRAUM
Geschichte: 
„2001: Odyssee im Weltraum“ ist ein Film von Stanley Kubrick aus dem Jahr 1968. Das Drehbuch wurde von Kubrick und Arthur C. Clarke geschrieben und basiert  auf Kurzgeschichten Clarkes. Der Film handelt von einer Reise zum Jupiter, gesteuert durch den Supercomputer HAL 9000. Die Besatzung wird ins All geschickt, weil ein Monolith entdeckt wurde, der die  menschliche Evolution beeinflusst.  Der Bordcomputer wird zunehmend zur Bedrohung. 
Realitätsgehalt: 
HAL war eine der ersten Darstellungen künstlicher Intelligenz. Zwar unterscheidet sich die heutige KI deutlich vom Film, aber HAL steht immer noch für die  Angst  vor  unkontrollierbaren Robotern. Die Vision tragbarer Computer  ist erstaunlich nah an   heutigen Tablets. Videotelefonie aber  war   im Film noch  an Telefonzellen gebunden, das funktioniert  deutlich mobiler. Die Raumfahrt ist hingegen  lange nicht so weit, eine Mission zum Jupiter bleibt Fiktion. cpl 

DIE ZEITMASCHINE
Geschichte: 
In der Zeit reisen zu können, ist ein Menschheitstraum. Durch die schnelle Entwicklung der Technik scheint er Realität werden zu können.  So begründet H. G. Wells geradezu ein ganzes Genre mit seinem Roman aus dem Jahr 1895.  Der Held der Geschichte reist  in das Jahr 802701. Die britische Klassengesellschaft hat sich dort radikalisiert und zu zwei Menschenrassen entwickelt. Die kindlichen Eloi leben glücklich und dümmlich und werden von den aggressiven Morlocks  ausgebeutet und gefressen.
Realitätsgehalt: 
Die Entwicklung von Zeitmaschinen ist noch nicht nähergerückt.  Wichtiger an Wells’ Roman ist aber, dass er auf den Trend aufmerksam macht, dass Gesellschaften sich spalten, dass die Schere zwischen arm und reich sich immer weiter öffnen könnte.

DER LETZTE DETEKTIV
Geschichte: 
Jonas. Nur Jonas. Er ist „Der letzte Detektiv“: So hieß die Hörspielserie, die 40 Folgen lang im BR lief. 1983 hatte sich Michael Koser diesen Detektiv ausgedacht, der im frühen 21. Jahrhundert ermittelt. In den Vereinigten Staaten von Europa herrscht Endzeitstimmung. Jonas’ Dienste werden benötigt, um  Che Guevaras Knochen zu stehlen oder Organhandel aufzudecken. Jonas könnte einer dieser einsamen Wölfe aus einem Krimi von Raymond Chandler sein. Wenn da nicht Sam wäre. Sein  mit Sprachprogrammen vollgestopfter Computer. 
Realitätsgehalt: 
Schon in den 80er-Jahren erfand Michael Koser den Euro. Dabei legte der Europäische Rat den Namen für die gemeinsame Währung erst 1995 fest. Mobile Mini-Computer trägt jeder heute im Smartphone-Format mit sich herum. Und: Virtual Reality hat die Holo-Visionen aus Babylon längst  abgelöst. aw

1984
Geschichte: 
Die Diktatur ist allgegenwärtig. Überall hängen Bilder des Herrschers, des Großen Bruders. Die Menschen werden mit  Kameras überwacht, es herrscht die Gedankenpolizei.  Die Hauptfigur Smith arbeitet  im Ministerium und passt historische Dokumente der gerade gültigen Parteilinie an. Aber er möchte Widerstand leisten, bis die Polizei ihn fasst. Nach einer Gehirnwäsche lernt er den Großen Bruder zu lieben.
Realitätsgehalt: 
George Orwells Roman aus dem Jahre 1948 denkt eigentlich den Stalinismus zu Ende. Dennoch wirkt das Buch prophetisch: China plant gerade eine Totalüberwachung der Bürger.   In westlichen Staaten geben sich  die Bürger einer freiwilligen Überwachung durch Computer und Smartphones hin,  indem sie Daten gegen  Dienstleistungen wie  Google Maps eintauschen. cpl

JULES VERNE
Geschichte: 
Als Jules Verne (1828– 1915) Bücher wie „Reise zum Mond“,„In 80 Tagen um die Erde“ oder „20 000 Meilen unter dem Meer“ schrieb, war noch nichts davon im Bereich des Möglichen, obwohl die Epoche vom Glauben an den technischen Fortschritt und  großen Entdeckungsreisen geprägt war. Beispiellos verband Verne   Wissenschaft und Spekulation zu futuristischen Visionen. 
Realitätsgehalt: 
Nicht zufällig erhielt 1954 das erste Atom-U-Boot der Welt, die amerikanische USS Nautilus, den Namen des futuristischen U-Bootes der Romanfigur Kapitän Nemo. Die erste Mondlandung fand am 21. Juli 1969 statt. Und wer heute den Globus mittels Linienflug umrunden will, braucht  nicht mal zwei Tage. Die Reise zum Mittelpunkt der Erde  bleibt allerdings ein Traum: Weder den Temperaturen noch den Druck könnte man standhalten.