München
Die Welt als Bühnenbild

Große Jörg-Immendorff-Retrospektive im Münchner Haus der Kunst: "Für alle Lieben in der Welt"

14.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:05 Uhr
  −Foto: Estate of Jörg Immendorff, Courtesy Galerie Michael Werner Märkisch Wilmersdorf, Köln, New York

München (DK) Dass der 1945 geborene Jörg Immendorff, der seit den 1980er-Jahren als einer der wichtigsten deutschen Maler gehandelt wird, nach seiner Schulzeit an der Düsseldorfer Akademie Bühnenbild studierte, bevor er dann 1964 sein "richtiges" Kunststudium bei Joseph Beuys begann - das könnte man abtun als Nebensächlichkeit.

In Wirklichkeit muss er genau bei den Bühnenbildnern so malen gelernt haben, dass es sein Künstlerleben prägte. Betrachtet man nun seine großformatigen Gemälde im Haus der Kunst, wo der scheidende Kurator Ulrich Wilmes ihm die bisher umfangreichste Retrospektive widmet, dann wird deutlich: Hier benutzt einer die Leinwand, um alles in den Blick zu nehmen - die ganze Welt mit ihren Verwerflichkeiten und Unzulänglichkeiten, aber auch die eigene Rolle als Künstler. Und all dies tut Immendorff in einem Stil, der mit der gegenständlichen Malerei jongliert, sie ironisiert - und zugleich Raum lässt für abstrakte Binnenzeichnungen. Einem vermeintlichen Nachkriegs-Diktat des Kunstmarktes zur Abstraktion aber hat sich Immendorff nie gebeugt.

Die Ausstellung präsentiert 187 Werke in den hohen Räumen im Haus der Kunst, und Immendorffs Gemälde schaffen das, was selten gelingt: Als Betrachter vergisst man das monumentale Pathos der Architektur und konzentriert sich auf diese ungeheure Mal-Lust, die vor Augen geführt wird. Die Exponate, viele davon groß wie Bühnenbilder, sind in Kapitel geordnet, folgen nicht streng der Chronologie - und das erleichtert das Verständnis.

Gleich in Raum 2 hängt ein kleinformatiges Bild: Zu sehen ist ein "armer Maler" frei nach Spitzwegs armem Poeten in der Dachstube, dem ein längerer Text beigefügt ist: "Ich wollte Künstler werden / Ich träumte davon, in der Zeitung zu stehen, von vielen Ausstellungen und natürlich wollte ich etwas ,Neues' in der Kunst machen. Mein Leitfaden war der Egoismus. " Diese Wünsche sind in Erfüllung gegangen, kann man angesichts seines Erfolges resümieren - ob der Egoismus prägend war, müssen Freunde wie Altbundeskanzler Gerhard Schröder beurteilen, der die Eröffnungsrede zur Ausstellung hielt.

Der Bilderreigen beginnt mit den provokanten Baby-Bildern, deren Süßlichkeit verfremdet wird - eines davon gab der Schau den Titel: "Für alle Lieben in der Welt", daneben hängt das berühmt gewordene Schriftbild: "Hört auf zu malen" von 1966. Immendorff fängt damals erst richtig an zu malen, und er kniet sich hinein in eine Agitprop-Kunst, denn als Mitglied der maoistischen KPD hat er an der Enge und Spießigkeit der BRD eine Menge zu kritisieren. Seine Bilder wirken wie Plakate, steigern sich dann aber nicht nur im Format.

Seine Serien "Café Deutschland" und "Café de Flore" sprengen fast die Räume und zeigen auf subtile Art Gegensätzlichkeiten: Hier blickt Brecht auf einen geschlossenen Raum herab, wo zwei deutsche Fahnen als Tischdecke herhalten müssen und, wie Mit-Kurator Damian Lentini erläutert, kein Fenster und keine Tür Auswege aufzeigen - und dort, in Paris, entfaltet sich intellektuelles Leben wie ein Tanz auf der Terrasse.

Und dann malt Immendorff am Ende seines Lebens noch einmal sich selbst als Maler - nicht mehr in einer Dachstube, sondern in einer weiten Landschaft, die im Vordergrund Wüste ist, deren gelber Sand nur notdürftig die Leiber der ermordeten Juden bedeckt und die im Hintergrund schwarz und brennend ist wie bei Hieronymus Bosch. Auch das ist Immendorff: Immer wieder zitiert er Malerkollegen, platziert er Hinweise auf eine lange Maltradition. Und mittendrin, zwischen nächtlichem Feuer und heißer Wüste, sitzt ein Maler vor der Staffelei, sein Gewand ist ein Muster aus Knochen, und er malt ein Paar mit Kind in der Manier des Eugène Delacroix. Vater, Mutter und Kind als heile Welt mitten im Inferno, und der Bildtitel erklärt: "Die Aufgabe des Malers".

Als Immendorff dieses Bild malt, 1998, gehorchen ihm noch seine Hände. Seit 1997 leidet er an der Nervenkrankheit ALS, die am 28. Mai 2007 zu seinem Tod führt. Im letzten Jahrzehnt delegiert er das Malen an Assistenten, ohne die Bildhoheit abzugeben. Wie seine 30 Jahre jüngere Ehefrau, die Bulgarin Oda Jaune, die er 2000 heiratete, jetzt vor den Bildern erklärte, wurden viele Motive der späten Bilder im Internet gesucht, am Bildschirm zusammengebaut, ausgedruckt und dann - oft mit vielen Abänderungswünschen des Künstlers - auf der Leinwand minutiös erarbeitet. So müssen auch seine letzten Selbstbilder entstanden sein: Der Künstler als sitzender Adler vor einer Kerze, die Palette hoch erhoben und umschirmt von Flügeln, in die Druckgrafik der Renaissance eingeschrieben ist. Das Spiel mit der Kunst, mit Stilen und Zitaten, beherrschte Immendorff. Er überlagerte Schattenrisse, Tapetenmuster und gegenständliche Malerei zu gemalten Collagen, schuf aus immer wieder auftauchenden Versatzstücken einen eigenen bildgewaltigen Kosmos, dem man mit Erstaunen, Bewunderung und Neugierde nun studieren kann.

Bis zum 27. Januar 2019 im Münchner Haus der Kunst, geöffnet täglich von 10 bis 20 Uhr, donnerstags bis 22 Uhr. Im Oktober 2019 geht die Schau nach Madrid.

Annette Krauß