"Der Kalte Krieg begann im Hürtgenwald"

30.08.2019 | Stand 02.12.2020, 13:10 Uhr
Ort des Entsetzens: Die Fundstelle eines im Zweiten Weltkrieg vermissten US-Soldaten in Vossenack bei Hürtgenwald. Dort erlitten die Amerikaner verheerende Verluste. −Foto: Berg/dpa

In seinem neuen Roman "Propaganda" führt der Pfaffenhofener Autor Steffen Kopetzky seine Leser ins blutige Gemetzel der Schlacht am Hürtgenwald - für ihn ein Vorspiel für das spätere Desaster des Vietnamkriegs.

Herr Kopetzky, die Schlacht im Hürtgenwald ist ein weitgehend vergessenes Kapitel des Zweiten Weltkriegs. Wie sind Sie darauf gekommen, gerade darüber einen Roman zu schreiben?
Steffen Kopetzky: Unmittelbar nach Fertigstellung meines Romans "Risiko" unterhielt ich mich mit einem befreundeten Historiker, der auch ein ehemaliger Hauptmann der Bundeswehr ist. Wir sprachen, von "Risiko" ausgehend, über Afghanistan und die enormen Schwierigkeiten, die die Taliban-Milizen der westlichen Allianz bereiteten. Der Kampf im Gebirge, in unübersichtlichem, unbekanntem Terrain und die Vorteile, die der Verteidiger dort hat. So kamen wir schließlich auf die Schlacht im Hürtgenwald, 1944 in der Nord-Eifel, von der auch ich noch nie etwas gehört hatte. Gleich danach begann ich mit der Recherche und lernte, dass der Hürtgenwald nicht nur so etwas wie eine zweite Hermannsschlacht war, sondern es da auch noch das "Wunder vom Hürtgenwald" gab, einen deutschen Militärarzt, der hunderten amerikanischen Soldaten das Leben rettete. Gemetzel und Humanität zusammen. Da wusste ich: Das könnte der Stoff für einen großen Roman sein.

Woher kommt die Faszination für das Militärische?
Kopetzky: Mich interessieren die existenziellen Fragen im Krieg. Krieg und Zivilisation hängen eng miteinander zusammen, eine blutige Konstante der Geschichte. Wir in Deutschland verdrängen diesen Zusammenhang heute oft - wir lassen andere kämpfen, verkaufen ihnen aber die Waffen. Da sehe ich mich als Aufklärer. Gegen unsere Selbstgefälligkeit. Gegen unseren Irrglauben, unser Leben heute sei selbstverständlich, gottgegeben und unschuldig.

Schreiben Sie kontrafaktische Geschichte?
Kopetzky: Nein, bei "Propaganda" eigentlich nicht. Ich gebe die Geschichte der Hürtgenwaldschlacht - etwas verdichtet - so wieder, wie sie war. Freilich hat es meine Hauptfigur John Glueck nicht gegeben.

Wie kamen Sie auf diese Figur?
Kopetzky: Ich wollte die Geschichte aus amerikanischer Perspektive erzählen, aber aus der Sicht eines US-Soldaten, der auch die deutsche Seite verstehen kann. So entstand die Figur John Glueck. Er arbeitet für die psychologische Kriegsführung und hat sich sein ganzes Leben lang mit Deutschland beschäftigt, spricht fließend Deutsch, da er Deutsch-Amerikaner ist. Auch das Thema Propaganda war naheliegend. Die deutschsprachige Propaganda-Zeitung "Sternenbanner", für die John Glueck schreibt und die millionenfach aus Flugzeugen abgeworfen wurde, gab es wirklich.

Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Kopetzky: In den USA ist die Schlacht im Hürtgenwald sehr bekannt, da sie als die verheerendste Niederlage der US-Armee im Zweiten Weltkrieg gilt. Es gibt etliche militärhistorische Werke, die sich analytisch, chronologisch, logistisch mit ihr beschäftigen, aber auch dokumentierte Augenzeugenberichte und anderes Material. Dann habe ich noch über die frühen 70er-Jahre recherchiert, in der der Roman ja erzählt wird. Hier ging es mir darum, die gesellschaftspolitische Stimmung damals in den USA nachzuvollziehen. In der Zeitschrift "MAD", die damals sehr politisch war, fand ich eine Karikatur mit den apokalyptischen Reitern der damaligen Zeit: Drogen, Umweltverschmutzung, Verschuldung und Arbeitslosigkeit. Die Innenstädte von New York und Chicago brannten jede Nacht. Es gab Woodstock und zahllose Demonstrationen gegen den Krieg und die eiserne Hand des Staates. Die Stimmung war paranoid, viele Leute glaubten, die USA hätten sich in einen faschistischen Nazi-Staat verwandelt, ein zweites Drittes Reich.

Haben Sie erst jahrelang ausführlich recherchiert und dann begonnen zu schreiben?
Kopetzky: Es war eher ein gleichzeitiges Vorgehen. Ich habe einfach irgendwann begonnen zu schreiben, um festzustellen, welchen Ton dieser Roman haben könnte. Beim Schreiben tauchten dann Fragen auf, dann forschte ich wieder nach. Und so kam eines zum anderen.

Haben Sie sich den Tatort der Schlacht in der Eifel angesehen?
Kopetzky: Ja, aber erst sehr spät, im vergangenen Jahr. Da hatte ich schon das meiste geschrieben und wollte nur sehen, ob es irgendwo grobe Widersprüche gab.

Und, gab es die?
Kopetzky: (lacht) Klingt unwahrscheinlich, aber es war alles so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Spürt man in dem Ort Schmidt noch etwas von der Schlacht?
Kopetzky: Wenn man mit älteren Leuten spricht, merkt man, dass diese Schlacht, dieses unglaubliche Gemetzel die Menschen dort tief geprägt hat. Das hielt bis weit in die Nachkriegszeit an. 1948 brannte der Hürtgenwald wochenlang, da haben sich die liegengebliebenen Minen in der sommerlichen Hitze selbst entzündet. Der Wald selbst ist schroff und unzugänglich. Man spürt, wie schrecklich es gewesen sein muss, da zu kämpfen.

In "Propaganda" geht es ja nicht nur um die Hürtgenwald-Schlacht, sondern um viel mehr: Sie erzählen eine Geschichte über Ernest Hemingway, aber auch über Charles Bukowski, J.D. Salinger, Ernst Jünger und andere Schriftsteller. In einer kühnen Konstruktion binden Sie den Zweiten Weltkrieg und den Vietnamkrieg erzählerisch zusammen. Warum diese historischen Bezüge?
Kopetzky: In vielen Analysen wird darauf hingewiesen, dass der Hürtgenwald wie ein Vorgriff auf den Vietnamkrieg war. Die Fehleinschätzungen der Generäle, das gnadenlose Durchziehen von Anweisungen, die von inkompetenten Entscheidern getroffen wurden.

John Glueck ist vor allem ein Idealist. Vordergründig ein Propagandist von Beruf, aber in Wirklichkeit ein Wahrheitssuchender, ein Aufklärer. Am Ende wird er ein Whistleblower, der verhindern will, dass die USA im Vietnamkrieg in das gleiche Unglück taumeln wie zuvor bei der Schlacht im Hürtgenwald. Was bedeutet da der Begriff Propaganda?
Kopetzky: Wir sind heute gewöhnt, Propaganda ausschließlich negativ zu konnotierten. Dabei ist der Begriff wertneutral. Er besagt nur, dass man für eine Position eintritt. Der Architekt Rem Koolhaas hat kürzlich gesagt, man sollte aufhören nur negativ über Propaganda zu reden. Es gibt ja die Werte der Demokratie, und es sei heute gerade dringlich nötig für diese Werte zu werben. Aber demokratische Propaganda darf eben nicht lügen! Das ist der Knackpunkt. John Glueck kämpft für die alten, wahrhaftigen amerikanischen Ideale seiner Jugend, die damals noch nicht als so hohl angesehen wurden, wie heute im Zeitalter Donald Trumps. Leute wie John Glueck haben Deutschland nach dem Krieg wieder aufgebaut, wieder in die Bahn gebracht. Ich wollte das also in einer gewissen Ambivalenz halten.
Ihr Roman handelt auch von den Schwierigkeiten, über das Thema Krieg zu schreiben. Hemingway war ja tatsächlich im Hürtgenwald dabei, und es wollte ihm nicht gelingen, die Eindrücke schriftstellerisch zu verarbeiten. Und Salinger hat geschrieben, und das zitieren Sie auch, dass man kämpfen und dann über diese Ungeheuerlichkeit den Mund halten sollte. Haben Sie selber gespürt, wie schwer es ist, dieses Thema zu bewältigen?
Kopetzky: Mir geht es immer darum, einen Zusammenhang herzustellen, der bis in unsere Zeit reicht. Im Zentrum stand die Beschäftigung mit Amerika. Ich bin dabei zurückgegangen bis zur Gründungszeit dieser Nation, die mit dem Zweiten Weltkrieg dann ihre Rolle als Weltmacht übernahm, die gleichsam unausweichlich war. Hemingway war die große Ikone, die die Rolle des freiheitlichen und individualistischen Amerikas repräsentierte. Der mit Politik eigentlich nicht viel zu tun haben wollte. Aber sein Individualismus wurde pulverisiert. Man wollte Europa vom Faschismus befreien, aber man wusste von der deutschen Entwicklung der Atombombe. Da kam die Gnadenlosigkeit zurück, die man aus den Indianerkriegen kannte. Stählerne Härte. Man sagte sich , unsere Gegner sind ab sofort auch die Sowjets. Wir müssen vor den Russen an den Rhein und ins Ruhrgebiet. Und wenn Stalin zehn Divisionen in den Untergang schickt, dann müssen wir das auch können. Der Kalte Krieg begann im Hürtgenwald.

Ihr Buch wirkt in vielen Passagen wie ein Abenteuerroman, erinnert fast an Karl May. Ist das so gewollt?
Kopetzky: Ob Karl May, Edgar Allan Poe, Cooper oder Hemingway: Ich sehe meine Aufgabe darin, eine Geschichte zu schreiben, die einen großen historischen Kontext aufscheinen lässt, und da sind die Mittel des Abenteuerromans denkbar gut geeignet, um den Leser hineinzuziehen. In Zeiten von Wikipedia und Netflix muss man sein Publikum durch Präzision und Spannung gleichermaßen fesseln.

Ist Ihr historischer Roman auch eine Reflexion der Gegenwart?
Kopetzky: Das Erzählen von Geschichte ist immer ein Akt in der Gegenwart. Was mich interessierte, war zu zeigen, was die Amerikaner damals auf sich genommen haben und wie weit das ihre eigene Gesellschaft verändert hat - und die Welt, bis heute. Denken Sie nur an die vernetzte Computertechnologie. Entstanden ist diese aus der Kybernetik und wurde von Norbert Wiener entwickelt, um die USA vor möglichen deutschen Raketenangriffen zu schützen. Wir alle leben historisch, technologisch und sozial in einer Welt, die im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurde. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns immer wieder intensiv damit beschäftigen.

Gibt es so etwas wie einen Kopetzky-Stil?
Kopetzky: Ich glaube, eine literarische Technik entwickelt zu haben, Fakten und Fiktion skrupulös und doch spielerisch miteinander zu verknüpfen und verschiedene Themen so übereinander zu blenden, dass sich eine besondere Dichte des Erzählens entwickelt. Das ist eine gewisse Eigenart - aber natürlich können das endgültig nur die Leser entscheiden. Auf deren Reaktionen bin ich jetzt sehr gespannt!

Das Interview führte Jesko Schulze-Reimpell.

ZUR PERSON:
Steffen Kopetzky (48) studierte Philosophie und Romanistik. Er lebt in Pfaffenhofen, ist verheiratet und hat zwei Kinder. In seiner Heimat arbeitet er ehrenamtlich als Referent für Kultur. Er hat Romane, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht.