Ingolstadt
Das große Schnauben

Standing Ovations: Claus Peymann inszeniert Eugène Ionescos Stück "Die Nashörner" am Stadttheater Ingolstadt

20.03.2022 | Stand 23.09.2023, 0:18 Uhr
Widersetzt sich dem kollektiven Wahn der Vernashornung: Behringer (Enrico Spohn). −Foto: Klenk

Ingolstadt - "Ich werde Mensch bleiben bis zum Schluss", sagt Behringer. Er steht auf seinem Bett. Das Gewehr in der Hand. Draußen haben die Nashörner die Stadt übernommen. Trampeln fauchend und prustend durch die Straßen, dass es aus dem Orchestergraben staubt und Bauschutt aus dem Bühnenhimmel fällt. Gerade noch hat er sehnsüchtig zu den Dickhäutern geblickt. "Wie gern wäre ich wie die!", hat er geseufzt. Seine Stirn abgetastet, ein zaghaftes Schnauben probiert, Kommunikationsmöglichkeiten erwogen.

Doch dann hat er Mut gefasst. Eine Entscheidung getroffen. "Ich bin der letzte Mensch! Ich kapituliere nicht!", ruft er trotzig allen entgegen. Über ihm leuchten Sterne am Firmament.

Was für ein Schlussbild! Als das Licht auf der Bühne verlischt, brandet Applaus auf. Er dauert lange. Und als Claus Peymann die Bühne betritt, gibt es Standing Ovations. Mehrfach musste Eugène Ionescos Stück "Die Nashörner" in Ingolstadt coronabedingt verschoben werden. Pünktlich zur Premiere am Samstagabend durfte dann wieder vor vollem Haus gespielt werden.

Und mit den "Nashörnern", diesem Klassiker des absurden Theaters, hat Regisseur Claus Peymann das passende Stück für diese Zeit ausgewählt. Die Welt ist in Schieflage geraten - das erfasst man mit dem ersten Blick auf das Bühnenbild. Paul Lerchbaumer hat ein schräges Podest ins Große Haus gebaut. Darauf - wie eine Strichzeichnung - den Umriss vereinzelter windschiefer Gebäude. Drumherum: nichts. Außer korrespondierenden Lichtstimmungen in sattem Blau, tiefem Rot oder mulmigem Graugrün (Licht: Ulrich Eh).

Der erste Akt spielt auf dem Platz einer kleinen Provinzstadt. Hier trifft man Behringer zum ersten Mal. Völlig derangiert. Eine traurige Figur in zu kurzen Hosen und mit einem grundsätzlichen Unbehagen an der Welt. Er klagt seinem Freund Hans gerade sein Leid, da taucht es auf, das erste Nashorn. Von der Menge als Kuriosität bestaunt - hätte es nicht eine Katze totgetrampelt. Da kocht Volkes Zorn hoch. Man stellt Vermutungen über das Tier an, zankt sich um Herkunft und Art und wird dann schnell grundsätzlich. Es geht ums Besserwissen, ums Recht haben, um Prinzipien. Um das Pochen auf Wahrheit. Um Hysterie, die sich bald in Normalität auflöst. Denn das Nashorn bleibt nicht allein. Immer mehr Einwohner - quer durch alle sozialen Schichten - werden Opfer dieser "Rhinozeritis" und verwandeln sich in animalische Kolosse. Neugier? Zeitgeist? Überzeugung? Unterwerfung? Verführung durch Übermacht? Der Firnis der Zivilisation ist dünn und brüchig. Bedenkenlos ordnen sich die Individuen der grauen Masse unter.

Es sind die verborgenen Triebkräfte von Massenbewegungen, die Mechanismen autoritärer und totalitärer Gleichschaltung, die Ionesco in seinen "Nashörnern" auf höchst komische und höchst tragische Weise in grotesker Überzeichnung hinterfragt. Und Regisseur Claus Peymann erzählt davon in eindringlichen Bildern.

Eine strenge Schwarz-Weiß-Ästhetik herrscht in seiner "Nashörner"-Inszenierung vor. Zu weiß geschminkten Clownsgesichtern tragen die Schauspieler schwarze Outfits (exquisite Kostüme von Su Bühler). Und bisweilen fühlt man sich an die kunstvolle Verschrobenheit aus Jacques-Tati-Filmen erinnert. So gewährt etwa das Verlagshaus von Direktor Schmetterling einen Blick in eine gleichförmige Arbeitswelt samt Konformisten-Uniform aus Schwarz-Rand-Brillen und Ärmelschonern. Und die fragilen Strukturen von Hans' und Behringers Wohnsituationen ähneln sich in ihrer architektonischen Armseligkeit.

Claus Peymann und Jutta Ferbers haben die Textvorlage klug gestrafft und sprachlich behutsam aktualisiert. Von "Lügenpresse" hat Ionesco 1957 nichts geschrieben. Aber auch ohne dieses Signalwort sind die aktuellen Bezüge deutlich: Epidemie, Verschwörungstheorien, Propaganda, Populismus, Radikalisierungstendenzen, Empörungskultur. Aus den unterschiedlichsten Gründen streifen Menschen plötzlich ihre Menschlichkeit ab, lassen ihre Bestien frei. Und wie das geschieht, führt Peymann hellsichtig, skurril, erbarmungslos vor.

Hoch konzentriert agiert das Ensemble, mit großer Energie und Präzision. Allen voran Enrico Spohn in der Rolle des Behringer. Ein Jedermann mit müdem Mut und wundem Herzen, der seinen Weltekel mit Alkohol melancholisch verbrämt. Einer, der sich durchwurstelt. Nicht besonders schlau, nicht besonders engagiert, weder kulturell noch politisch interessiert, mit sympathischem Phlegma. Aber ein Freund. Einer wie wir. Und: ein Aufrechter. Dass er am Ende der einzige ist, der übrig bleibt, weil er sich besinnt aufs Menschsein und darauf, dass die Wahrheit auch Kampf bedeutet, nimmt man mit als Zeichen der Hoffnung aus dieser Inszenierung.

Virtuos ist dieses Spiel von Enrico Spohn. Facettenreich. Ein immer wieder überraschender Mix aus Arlecchino und Buster Keaton. Und herrlich das clowneske Zusammenspiel mit Sascha Römisch als Freund Hans. Szenenapplaus gibt es für Römischs Nashorn-Transformation auf offener Bühne. Wie aus dem vermeintlich vergrippten Patienten ein schnaufendes, keuchendes, wütendes, trampelndes Tier wird, das ist schon eins der Highlights des Abends.

Wie auch das absurde Gespräch zwischen dem Logiker und dem Älteren Herrn, denen Richard Putzinger und Ulrich Kielhorn Gestalt verleihen. Köstlich diese exzessive Bedeutsamkeit in Sprache und Spiel. Oder Philip Lemkes Interpretation des Karrieristen Stech, der sich Schritt für Schritt, immer lauter, immer stampfender den marschierenden Nashörnern angleicht.

Victoria Voss als Frau Wisser (Peymann gendert hier), Teresa Trauth als Frau Ochs, Katharina Hintzen als Daisy, Sandra Julia Reils und Sebastian Kremkow - sie alle agieren in ihren Rollen mit differenzierter Künstlichkeit, subtil und erfindungsreich, in der drastischen Lächerlichkeit bisweilen berührend und beeindruckend im gewitzt choreografierten Ensemblespiel.

Ionesco hat mit den "Nashörnern" ein zeitloses Stück geschrieben. In Peymanns Inszenierung erfährt man viel über unsere Zeit im Besonderen und das Menschsein im Allgemeinen. Ein höchst unterhaltsamer Theaterabend - und ein scharfsinniger Kommentar zur Gegenwart!

DK

ZUR PRODUKTION

Theater:

Großes Haus,

Stadttheater Ingolstadt

Regie:

Claus Peymann

Bühne:

Paul Lerchbaumer

Kostüme:

Su Bühler

Vorstellungen:

27., 31. März, 6., 13., 14. April, 2. Mai
Kartentelefon:

(0841) 30547200

Anja Witzke