Ingolstadt
Das Lied von Eis und Feuer

Uraufführung im Stadttheater Ingolstadt: Donald Berkenhoffs Stück "Wege des Helden. Siegfried" besticht durch visuelle Opulenz

14.04.2019 | Stand 23.09.2023, 6:38 Uhr
Ein Mann will nach oben: Siegfried (Enrico Spohn) hat im Drachenblut gebadet. −Foto: Klenk

Ingolstadt (DK) Natürlich wählt er den Weg des Helden. Er hat den Drachen erschlagen, war zu Gast bei Hel, der Herrscherin der Unterwelt, hat die Walküre bezwungen.

Und jetzt will er mehr. Mehr Ansehen. Mehr Macht. Mehr von allem. Auch wenn das nicht nur einen verheerenden Krieg, sondern auch seinen frühen Tod bedeutet. Er pfeift auf die Alternative, die Gripir, der Seher, ihm angeboten hatte: attraktives Eigenheim, Familienglück, hohes Alter. Durchschnitt eben. "Ich gehe den Weg des Helden", bekräftigt Siegfried. Denn er ist überzeugt: "Es hat gut angefangen. Und es wird gut enden." Wir wissen es besser.

"Wege des Helden. Siegfried" hat Donald Berkenhoff sein Stück genannt, das mit zwei Wochen Verzögerung - schwerwiegende technische Probleme hatten die geplante Premiere unmöglich gemacht - am Samstagabend im Großen Haus des Stadttheaters Ingolstadt uraufgeführt wurde. Berkenhoff greift den Drachentöter-Mythos aus der Nibelungensage und der Edda auf, mischt ihn mit aktuellen Bezügen wie der MeToo-Debatte oder Religionskonflikten und setzt ihn in einer bildgewaltigen "Game of Thrones"-Ästhetik und einem schauspielerisch starken Ensemble in Szene.

Dabei ist die Bühne (Fabian Lüdicke) weitgehend leer. Weiße Leinwände dominieren den Raum, der nach hinten ansteigt, nach vorne steil abfällt und verschiedene Spielebenen (ver)birgt. Sie machen die Räume klein und groß, bilden Grenzen, öffnen Türen, fokussieren den Blick. Und sind vor allem Projektionsfläche für Stefano di Buduos elegante Schwarz-Weiß-Videos von Wasser und Wolken, neuronalen Netzen und Tapetenmustern, Nebelschwaden und Eisfeuer. All diese Bilder entwickeln in Kombination mit der Live-Musik einen Sog, dem man sich kaum zu entziehen vermag. Elektroakustische Spielereien hat sich der schwedische Komponist Anders Ehlin ausgedacht, pochende, pulsende, klirrende, enervierende Soundscapes, Experimentelles und Monumentales, archaische Gesänge und wabernde, verwehte Echos aus vergangenen Träumen. Und gemeinsam mit Jakob Dinkelacker am Schlagzeug erzeugt er am Flügel eine mystische Atmosphäre.

Berkenhoffs "Siegfried" ist eine Mischung aus Fantasy-Saga und Shakespeare-Tragödie (prachtvoll die Kostüme von Andrea Fisser), eine überraschende Kombination aus immer wieder erzählten Geschichten und einem scharfsinnigen Kommentar zur Gegenwart mit vielen ironischen Brüchen und großen emotionalen Fallhöhen. Da ist der kleine Junge (Jack Williams als souveräner Siegfried-Doppelgänger), der sich aus dem schmutzigen Ruhrpott-Dasein in Märchenwelten träumt.

Und der junge Mann, der sich selbst neu erfindet: Aus dem Gehilfen des Schmieds wird ein Königssohn, der durch die Tarnkappe geschützt einen Drachen besiegt, in seinem Blut badet, seinen Schatz einkassiert. Doch seitdem hört er dessen Stimme im Kopf. Ein zweites Ich, das gehässig sein Handeln kommentiert, seine Lügen entlarvt, ihn peinigt und quält.

Siegfried erweckt die Walküre Brünhild aus dem Feuerkreis, verspricht ihr die Treue und betrügt sie bald - hat er doch die Chance auf mehr Prestige, wenn er eine Königstochter freit. Wenn auch nur eine vom erzkonservativen Hof zu Worms: Kriemhild. Dafür verbandelt er deren Alkoholiker-Bruder Gunter mit der isländischen Amazone und hilft ihm mittels Tarnkappe nicht nur, die Wettkämpfe zu gewinnen, sondern auch, sie zu vergewaltigen und so "gefügig" zu machen. Brünhild schwört Rache - und fordert von Gunters Familie Siegfrieds Tod.

Auf dieser Folie alter Sagen erzählt Donald Berkenhoff erstaunlich viel von unserer Gegenwart - nicht nur über männliche Macht, soziale Strukturen oder wie Politik und Religion einander bedingen. Sein Siegfried ist das Paradebeispiel eines Karrieristen. Und Enrico Spohn in der Titelrolle nimmt das als perfekte Spielvorlage: Er zeigt ihn nicht unsympathisch, zu Beginn vielleicht sogar noch ein naiver Träumer, mehr und mehr ein Meister des Lavierens, ein Ehrgeizling ohne Skrupel, der leicht Allianzen schmiedet und sie genauso leicht wieder aufkündigt. Spannend ist das, denn Spohn demonstriert, wie ihm die kindliche Leichtigkeit des Märchenkönigs (die Krone aus dem Drachenschatz legt er nie ab) immer mehr abhanden kommt, wie Macht korrumpiert, wie Gewalt stets Gegengewalt fordert.

Vor allem im Zusammenspiel mit Olaf Danner, der als Drachen-Alter-Ego einen imposanten Widerpart gibt, entstehen eindringliche Momente. Überhaupt ist Olaf Danner derjenige, der die meisten Rollenwechsel zu bewältigen hat - u.a. als Sprecher, Hagen von Tronje, Gripir -, aber er tut das exzellent, mit Gespür für Details und Witz sowieso.

Das ganze Ensemble ist hier zu loben, wie formidabel es seine Rollen ausgestaltet: Sascha Römisch als Gunter, den die eigene Verworfenheit schließlich resignieren lässt. Andrea Frohn als geschändete Walküre, die nach Vergeltung lechzt. Teresa Trauth als eigenwillige Kriemhild. Manuela Brugger als gruselige Hel oder reservierte Königsmutter Ute, die im Hintergrund machtvoll die Fäden zieht. Renate Knollmann, die so überirdisch schön die nordische Sagenwelt herbeisingen kann. Und Maik Rogge und Peter Reisser, die nicht nur hinreißend komisch das infantile Brüderpaar Giselher und Gerenot geben, sondern mit Grandezza auch die beiden Raben Odins, Hugin und Munin, führen, die hier als Marionetten auftreten (Puppenbau: Dorothee Metz und Bodo Schulte). Nicht die einzigen Puppen. Auch Alberich, Hüter des Nibelungenhorts, ist eine etwa kleinkindgroße Puppe, die dem verschlagenen Gollum aus dem "Herrn der Ringe" ähnelt. Sascha Römisch erweckt den durchtriebenen Zwerg mit Verve zum Leben.

Berkenhoff verzichtet vollkommen auf Pathos, ist nah dran an seinen Figuren, holt sie ins Heute, mischt Comedy mit einer luziden Bildästhetik. Auch wenn der zweite Teil ein wenig langatmig gerät, so fügen sich all diese Elemente doch handwerklich perfekt zu einer komplexen, höchst beziehungsreichen, visuell opulenten und unterhaltsamen Inszenierung, die nach zweidreiviertel Stunden mit langem Applaus bedacht wird. Und den Zuschauer mit der brennenden Frage entlässt: Wie geht es weiter mit Brünhild? Donald Berkenhoff denkt bereits über einen zweiten Teil nach.
 

ZUM STÜCK

Theater: Großes Haus Ingolstadt
Regie: Donald Berkenhoff
Bühne: Fabian Lüdicke
Kostüme: Andrea Fisser
Läuft bis: 2. Juni; Einführung eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn
Kartentelefon: (0841) 30547200

Anja Witzke