Ingolstadt
Carpenters Berlin-Symphonie

Der amerikanische Organist improvisiert bei den Audi-Sommerkonzerten zu Walter Ruttmanns Stummfilm<?ZE>

25.07.2018 | Stand 23.09.2023, 4:12 Uhr
Revolution an der Orgel: Cameron Carpenter improvisiert zu Walter Ruttmanns Dokumentarfilm "Berlin. Symphonie der Großstadt". −Foto: Stefan Sauer

Ingolstadt (DK) Was hat dieser Mensch für Nerven! 60 Minuten noch bis zum Konzert und Cameron Carpenter (37) übt im Ingolstädter Festsaal, als hätte er die Zeit vergessen.

Er spielt mit größter Anspannung auswendig Toccatas von Bach und seine eigene Bearbeitung der 4. Klaviersonate von Alexander Skrjabin - grandiose, dröhnende Klänge, rauschhaft farbige Musik. Man spürt sofort, dass hier der wohl außergewöhnlichste Organist der Welt die Tastatur bearbeitet. Carpenter ist in seinem Metier ungefähr das, was im 19. Jahrhundert Paganini für die Entwicklung der Geigenkunst war: Er bricht zu völlig neuen Dimensionen der Virtuosität auf, revolutioniert Spielweisen, indem er etwa völlig anders die Pedale bedient wie andere Organisten. Und er hat sich das größte transportable Instrument der Welt bauen lassen: die "Touring Organ", eine digitale Orgel mit fünf Manualen und rund 200 Registern. Nur mit diesem Instrument kann er genau die Klangvorstellungen verwirklichen, die ihm vorschweben.

Carpenter spielt bewegend auf diesem Instrument, aber keine Werke, die er für diesen Abend benötigt. Denn im Rahmen der Audi-Sommerkonzerte geht der amerikanische Organist diesmal ein ungewöhnliches Projekt an. Er will den etwa einstündigen Dokumentarfilm "Berlin. Symphony einer Großstadt" von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1927 vertonen.

Carpenter ist vollkommen konzentriert, Aufbauarbeiten, herumlaufende Menschen um ihn herum bemerkt er nicht. Wie aus einer Trance erwacht er, als er unterbrochen wird. Er habe noch keine Zeit, sagt er, er müsse üben. Um 19.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Konzertbeginn, kommt Melanie Goldmann von Audi zur Mikrofonprobe. Inzwischen hat Carpenter, der noch in T-Shirt und Shorts gekleidet ist, die gigantische Tastatur seiner digitalen Orgel verlassen, verschiebt nun Lautsprecher und Schallschutzwände. Dann kontrolliert er die 72 Kanäle seiner Anlage. Kanal 17 ist tot. "Was ist da los? Steckt das Kabel nicht? " Carpenter eilt über die Bühne.
Dann, etwa 19.40 Uhr, Carpenter läuft schnellen Schrittes ins Künstlerzimmer. Von großen Tellern reißt er die Cellophan-Folie herunter, kostet Häppchen. Er hat Zeit, ein paar Fragen zu beantworten.

Was immer man von ihm vermuten könnte: Carpenter verneint es. Ob er Stummfilme liebe? "Nein, ich bin ein großer Filmfreund, aber Stummfilme gefallen mir nicht. " Ob er klassische Musik gerne höre. "Nein, ich höre nicht viel Musik und wenn, dann ganz gewiss keine klassische Musik. " Ob er die ursprüngliche Musik von Edmund Meisel für Ruttmanns Stummfilm kenne. "Nein", sagt er, die habe er sich nicht angehört. Warum auch? "Mir kommt es auf etwas ganz anderes an, dazu muss ich keine andere Musik kennen. " Ob er sich eine Art Partitur zurechtgelegt habe? "Nein, ich improvisiere. " Und wie er sich darauf vorbereitet habe? "Ich muss nicht unbedingt an der Orgel sitzen, um mir meine Improvisation auszudenken", erklärt Carpenter. "Das alles geschieht in meinem Kopf, wenn ich mir den Film anschaue. " Es klopft an der Tür, eine Stimme sagt, dass das Konzert in fünf Minuten beginne. Carpenter hat genug gegessen, nun ist er völlig entspannt. "Bitte", sagt er, "bleiben Sie. "

Er denkt jetzt intensiver über den Film von Ruttmann nach. "1927 wurde er gedreht, aber wir können ihn nicht mit den Augen von damals sehen", meint er. "Wir denken unwillkürlich, dass die Leute in dem Film später Nazis werden. " Der Film ende mit einem Feuerwerk und dem Licht eines Leuchtturms, also eigentlich optimistisch, aber er assoziiere dabei sofort Hakenkreuze. "Ich habe mit dem Gedanken gespielt, am Ende Motive aus Wagners ,Meistersinger' anklingen zu lassen. Ich habe das aber wieder verworfen, das war für mich ein zu starkes Statement. "

Seine Improvisation klingt verblüffend anders, als man es erwarten würde. Carpenter vermeidet es geradezu, allzu lautmalerisch zu sein, allzu sehr die Geräuschkulisse der Großstadt naturalistisch nachzubilden. Im Gegenteil: Seine Musik wirkt manchmal wie losgelöst von den Ereignissen auf der Leinwand. Motive und deren Verarbeitung entwickeln sich wie in einem großen symphonischen Komplex, einer allgemeinen tönenden Meditation über das Alltagsleben im Berlin der 1920er-Jahre.

Die Zusammenhänge zwischen Tönen und Bildern sind merkwürdig vage: Da gerät die Musik bei einer Achterbahnfahrt ins Trudeln. Da röhrt mal eine Hupe, dunkle Akkorde untermalen marschierende Soldaten. Und gegen Ende, wenn das Berliner Nachtleben geschildert wird, wird Carpenters Instrument fast zur Kirmes-Orgel, es klingelt und scheppert, Salonmusik, Anklänge von Jazz erfüllen den Saal.

Später, beim Künstler-Gespräch, erwähnt Carpenter sein Vorbild, Arthur Honegger (1892-1955). Ein treffender Vergleich. Bewunderungswürdig ist, wie rund Carpenters Improvisation klingt, was für eine unendliche Vielfalt guter Motive und Melodien er erfindet, wie farbig er diesen Musikstrom registriert.

Das Publikum im fast vollbesetzten Festsaal jubelt am Ende. Und Carpenter bedankt sich mit dem, was er am besten kann: Bach spielen. Die "Passacaglia und Fuge" in c-Moll gehört zu den effektverliebtesten Kompositionen des Thomaskantors. Und Carpenter zieht im wahrsten Sinne des Wortes alle Register, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen. In den einleitenden, sehr schnell gespielten Tönen oktaviert er das tiefe Es, dass der Saal zittert. Und am Ende der Fuge bebt der Saal noch mehr, weil er sein Instrument zu voller Lautstärke aufdreht. Ein gigantischer Orgelsturm. Eine Demonstration von Stärke, von Opulenz: des Organisten, des Instruments und Johann Sebastian Bachs. Das Publikum ist hingerissen.
 

Jesko Schulze-Reimpell