"Lektüre in diesen verworrenen Tagen"

17.03.2020 | Stand 23.09.2023, 11:16 Uhr
Wie leergefegt: Das Leben in Italien ist, wie hier in Venedig, zum Stillstand gekommen. Thomas Mann lässt eine seiner berühmten Novellen in der Lagunenstadt spielen. −Foto: Marinoni, dpa

Ein italienischer Lehrer empfiehlt seinen Schülern, Alessandro Manzonis "Die Verlobten" zu lesen. In Frankreich steigt der Umsatz von Camus "Die Pest". Und Boccaccio wusste schon vor rund 700 Jahren, dass Geschichten erzählen in der Quarantäne Mut machen kann.

 

Ingolstadt - Ende Februar, als Italien schon längst im Corona-Krisenmodus war, das öffentliche Leben schon massiv eingeschränkt war, aber viele dennoch irgendwie hofften, dass es nicht noch schlimmer kommen würde, hat Domenico Squillace eine überraschende Botschaft verfasst, hat der Schulleiter des Mailänder Gymnasiums Alessandro Volta seinen Schülern einen berührenden und inzwischen über Italien hinaus reichenden viralen Brief geschrieben. Er rate ihnen - damals war das noch möglich, inzwischen sollen die Italiener möglichst zu Hause bleiben - nicht nur spazieren zu gehen, sondern auch "I Promessi sposi" (übersetzt: "Die Verlobten") von Alessandro Manzoni (1785- 873) zu lesen. "I Promessi sposi" ist ein Standardwerk, 900 Seiten stark, vergleichbar in Deutschland mit der Bedeutung von Johann Wolfgang Goethes "Faust". In Italien gilt es nach Dante Alighieris (1265-1321) "Die Göttliche Komödie" als das bedeutendste Werk der klassischen italienischen Literatur.

In seinem historischen Roman von 1827 beschreibt der 1785 in Mailand geborene Schriftsteller nicht nur die Liebesgeschichte von Lucia und Renzo, sondern auch die Vorkommnisse um die Pest, die 1630 Mailand heimsuchte, ausführlich in zwei Kapiteln.

Der Mailänder Lehrer schreibt nun 193 Jahre später als Begründung für seinen Lektürevorschlag: "Es ist ein lehrreicher, ungemein moderner Text, ich empfehle euch, ihn aufmerksam zu lesen in diesen verworrenen Tagen. Alles findet man hier: die Gewissheit, dass Fremde gefährlich sind, den Streit der Behörden, die verzweifelte Suche nach dem Patienten null, die Verachtung von Fachleuten, die Jagd auf Krankheitsüberträger, die Gerüchte, die verrücktesten Heilmittel, das Hamstern von Lebensmitteln, den Ausnahmezustand." Literatur, das war wohl das Ansinnen des Pädagogen, als Lebenshilfe, als Mutmacher und Erkenntnisgewinn, Literatur als kollektives Moment - und als erhellender Zeitvertreib.
DIE PEST ALS METAPHER In Frankreich hingegen, das berichten verschiedene französische Medien, kaufen die Menschen seit Beginn der Corona-Krise vermehrt "La Peste" ("Die Pest") von Albert Camus (1913-1960), 1947 veröffentlicht und eines der Schlüsselwerke des bedeutenden französischen Schriftstellers. Camus beschreibt in drastischen Bildern den Ausbruch der Pest in der algerischen Stadt Oran. Für den Existenzialisten stand die Pest auch für den Nationalsozialismus, der Kampf gegen die Seuche für den Widerstand der Menschen. Die Pest wird bei Camus zur Metapher für den Zivilisationsbruch, der unermüdliche Einsatz des Arztes Bernard Rieux - Sisyphos gleich - aber auch zum Plädoyer für Solidarität, Freundschaft und Liebe in unmenschlichen Zeiten. Zeitgenossen erkannten in "La Peste" darüberhinaus eine sogenannte Übergangsmetaphorik, wonach aus der Katastrophe Neues entstehen könne.

In der Weltliteratur gibt es zahlreiche Werke, die sich mit ungeheuren Ereignissen einer Epidemie oder einer Pandemie und ihren Folgen für Einzelne oder eine Gesellschaft fiktional auseinandersetzen. Mit unterschiedlichem Impetus und unterschiedlichem Wollen. Mal allegorisch, mal autobiografisch, mal historisch bedingt. Es gibt in den vielen Büchern die Zweifler, die Skeptiker, die Angstvollen, die Vernünftigen, die Verschwörungstheoretiker und die Hoffnungsvollen. Nur einige Beispiele sind Daniel Defoes (1660-1730) "Pest in London" oder Thomas Manns (1875- 1955) Novelle "Tod in Venedig", wo der Meister der Sprache Gustav von Aschenbach an der Cholera, die aus Indien die Lagunenstadt erreichte, sterben lässt. Und Philip Roth (1933- 2018) erzählt in "Nemesis" von einem Sportlehrer, Bucky Cantor, der während des Zweiten Weltkriegs in Newark den Kampf gegen eine Polio-Epidemie in seiner Stadt führt. Er ist ein klassischer Held, der klassisch tragisch scheitert.
LEBENSFROHE NOVELLEN Sozusagen in Quarantäne geschickt - auch wenn das Phänomen und der Begriff erst Ende des 14. Jahrhunderts in Italien aufkamen - hat Giovanni Boccaccio (1313-1375) die Protagonisten des "Decamerone" ("Das Zehntagewerk"). Das Hauptwerk des Schriftstellers, der neben Dante Alighieri und Francesco Petrarca (1304-1374) zu den "drei Kronen" der Florentiner Literatur zählt, hat sein Hauptwerk in die Zeit der Pest, die 1350 in Florenz wütete, verortet. Zehn junge Leute bringen sich vor dem Schwarzen Tod in Sicherheit und verbringen zehn Tage in heiterer und anregender Gesellschaft in einem Landhaus in den Hügeln bei Fiesole, wo sie sich allerlei Geschichten erzählen. Boccaccio stellt den 100 Novellen eine beklemmend realistische und detailreiche Schilderung der Pest voraus, ein "momento mori", bevor dann die lebensbejahenden, witzigen und sinnlichen Geschichten folgen. Geschichten, die Hoffnung spenden sollen, erzählt als gemeinschaftsstiftende Ablenkung.
MUTMACHER PER SPRACHNACHRICHT In sozialen Netzwerken kommunizieren in diesen Tagen Millionen Menschen weltweit über die vorübergehende häusliche Isolation, und die Medien bringen Geschichten von Menschen in Quarantäne. Die italienische Tageszeitung "La Stampa" gibt seit ein paar Tagen auf ihrer Homepage die Möglichkeit, unter dem Motto "Ti mando un vocale", kurze Sprachnachrichten zu veröffentlichen. Leser können erzählen, wie es ihnen zu Hause denn so geht. Von Mailand bis Cagliari auf Sardinien. Frauen und Männer, Junge und Alte beschrieben ihren Alltag, äußern ihre Sorge und Solidarität oder geben einfach Tipps, wie man die langen Tage am besten verbringen kann: Pizza backen, Marmelade einkochen, Schränke aufräumen, telefonieren, mit den Kindern lernen und spielen oder eben: lesen.

Der kluge Mailänder Rektor, der am 25. Februar in seinem Brief auch vor Hysterie warnte und seinen Schülern Mut machte, auch auf die Erkenntnisse der Medizin zu setzen, lässt seinen Brief wie folgt enden: "Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gefüge, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule."

DK

Katrin Fehr