"Das ist fast absurd"

Der Sänger Christian Gerhaher ist Kopf der Gruppe "Aufstehen für die Kunst" - Sie droht dem Staat mit einer Klage

07.03.2021 | Stand 16.03.2021, 3:33 Uhr
Christian Gerhaher: "Die Politik ist oft ratlos." −Foto: Hohenberg

München - Der Bariton Christian Gerhaher gehört zu den Initiatoren der Gruppe "Aufstehen für die Kunst", die eine Wiedereröffnung der Kulturinstitutionen fordert und dafür vor Gericht gehen will.

Ein Eilantrag beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof soll möglicherweise Anfang dieser Woche eingereicht werden.

Herr Gerhaher, der Lockdown soll gelockert werden. Sind Sie zufrieden? Oder werden Sie Klage einreichen?
Christian Gerhaher: Wir sind einerseits zufrieden, dass die Künste ein gewisses Szenario der Öffnung bekommen. Wir sind aber nicht damit einverstanden, dass dies so vergleichsweise spät bei den darstellenden Künsten zum Tragen kommt. Die Schlechterstellung der darstellenden Künste im Vergleich mit dem Einzelhandel sehen wir nicht ein.

Warum?
Gerhaher: Wir verstehen hier die Motivation der Politik nicht. Es wird zwar gesagt, dass die Hygienekonzepte der darstellenden Künste großartig seien; und es wird auch zunehmend anerkannt, dass es zahlreiche Studien gibt, die überzeugend die geringe Infektiosität für die Besucher der Kulturstätten darlegen. Und dennoch wird von der Politik nach wie vor behauptet, dass zu unseren Konzerten und Theateraufführungen gefahren werden muss, was die Gefahr mit sich bringt, dass sich die Leute anstecken. Uns ist aber nicht begreiflich, warum der Einzelhandel hier anders behandelt wird. Denn auch zu den großen Einkaufzentren fahren die Leute mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Schlechterstellung ist uns ein Dorn im Auge. Aber allein deswegen einen gerichtlichen Eilantrag zu stellen - da sind wir uns noch nicht schlüssig. Denn der Verwaltungsgerichtshof kann argumentieren, dass es inzwischen ein Ausstiegsszenario gibt.

Aber so eindeutig sind die Bestimmungen doch gar nicht?
Gerhaher: Die Lockerungsauflagen der Bundesregierung sind alles andere als sehr klar. Es wird darauf verwiesen, dass die Kreisverwaltungsreferate das entscheiden sollen, aber natürlich in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium. Wir befürchten, dass wir da ein Spielball der Politik bleiben. Deshalb stehen wir eigentlich zu diesem Eilantrag. Allerdings müssen wir Anfang dieser Woche noch einige Gespräche zwischen Intendanten und bayerischen Politikern abwarten. Was wir allerdings erwägen, ist eine Verfassungsklage. Da geht es dann tatsächlich um das, was uns wichtig ist, nämlich welche Rolle die Künste in der Gesellschaft spielen sollen.

In welcher Weise können Sie sich Konzerte vorstellen unter derzeitigen Corona-Bedingungen?
Gerhaher: Das ist sehr schwierig zu sagen, denn es hängt von den jeweiligen Bedingungen ab. Man kann das Nationaltheater mit seinen über 2000 Plätzen schlecht vergleichen mit einem Rathaussaal in einer mittleren bayerischen Stadt. Die Zufahrtssituation ist sehr unterschiedlich, ebenso die Belüftungstechnik. Was wir als nicht überzeugend ansehen werden, und wogegen wir uns dann auch wehren würden, wäre eine willkürliche Bestimmung wie im vergangenen September, als für alle Säle genau 200 Besucher zugelassen wurden.

Wie erklären Sie sich den geringen Stellenwert, den die Kunst in der Politik genießt?
Gerhaher: Wenn wir unsere Klage einreichen, werden wir auf die grundrechtlichen Prinzipien, die der Kunst zustehen verweisen. Etwa auf die gleiche Wichtigkeit des Begriffs Kulturstaat wie des Begriffs Rechtsstaat in der bayerischen Verfassung. Das ist eine Besonderheit, die uns von vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen abheben würde, wenn sie denn so respektiert würde. Das andere ist die Kunstfreiheit im Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik, die auf gleicher Ebene wie die Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit steht. Aber Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit wird derzeit zwar eingeschränkt, keineswegs aber ganz aufgehoben. Anders steht es um die Kunstfreiheit.

Das erklärt den geringen Stellenwert, den die Kultur genießt, aber noch nicht.
Gerhaher: Die Politik ist oft ratlos, wenn es um die Kunst geht. Da sagt sie etwa im November, dass es sich bei der Kunst um Freizeitaktivitäten handelt, und die werden dann auch noch plakativ neben Bordelle und Spaßbäder gestellt. Da gehören wir aber nicht hin. Die Kunstfreiheit garantiert uns, dass wir uns nicht so definieren müssen. Sie garantiert uns, dass wir unsere Kunst ausüben können, ohne unterhalten zu müssen oder zu "erbauen", wie es der bayerische Ministerpräsident im April in seiner ersten Äußerung zur Kultur gesagt hat. Die Kunst sei wichtig, da sie zur Erbauung da sei. Das stimmt nicht. Die Kunst ist um ihrer selbst willen da. Genauso wie der Glaube auch um seiner selbst willen da ist. Der Glaube kann nicht hinterfragt werden, anders als das Wissen. Deshalb ist die freie Religionsausübung wichtig. Und so sehen wir das bei den Künsten auch.

Verblüffend ist in diesem Zusammenhang, dass die Politik die wirtschaftliche Stärke und Bedeutung der Kunst- und Kreativwirtschaft nicht berücksichtigt.
Gerhaher: Das verstehen wir überhaupt nicht. Peter Altmaier sagte, zuerst kommt die Wirtschaft und dann der Rest. Aber wir sind auch Wirtschaft. Die Kultur- und Kreativwirtschaft hat sogar einen enormen Anteil am Bruttoinlandsprodukt - etwa ein Fünfzehntel. Ich verstehe nicht, warum das nicht gesehen wird.

Vielleicht hat Ihre Klage ja nicht unbedingt direkte Folgen, dafür aber indirekte. Vielleicht ist sie ein symbolischer Akt, der dazu auffordert, über die Bedeutung der Kunst noch einmal einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen?
Gerhaher: Ja, das hoffe ich in der Tat. Das ist auch der Grund, warum wir so vorsichtig sind, die Klage möglicherweise vorschnell einzureichen. Wir wollen nämlich auch, dass der Schaden, der durch die Lockdown-Light-Maßnahme im November vor allem den Darstellenden Künsten entstanden ist, gesellschaftlich sichtbar wird. Ich fürchte, dass der entstandene Schaden nach der Pandemie dazu führen wird, dass es besonders unter den frei arbeitenden Orchestern sowie unter den kommunalen Theatern viele Opfer geben könnte. Ich fürchte auch, dass die Politik am Ende sagt: Umso besser. Dann fallen Subventionen weg. Das sind aber in Wirklichkeit keine Subventionen, sondern Investitionen in unsere Bildung. Dagegen bräuchten wir eine Stärkung der Kultur durch eine gerichtliche Instanz.

Auffällig ist, dass gerade die Kulturszene, mehr als jeder andere Bereich des gesellschaftlichen Lebens, äußerst kreativ und flexibel mit der Krise umgegangen ist und neue Wege entdeckt hat, an das Publikum zu kommen. Hat das für die Kulturszene nicht einen nachhaltigen positiven Effekt?
Gerhaher: Das ist möglich. Ich glaube, dass die Pandemie hier etwas beschleunigt hat, was sich ohnehin anbahnte. Digitale Konzerte halte ich allerdings eher für eine Notlösung, sie haben immer etwas Trauriges. Aber was daraus entsteht, werden wir nach der Pandemie sehen.

Wie ist das für einen Musiker, in einem leeren Saal ohne Publikum in eine Kamera zu singen?
Gerhaher: Das ist schwer zu fassen. Musiker sind ja auch leere Säle gewohnt, etwa bei Proben. Wir kennen die anderen akustischen Bedingungen. Mein Pianist Gerold Huber und ich waren vor drei Wochen in Spanien und sind dann erstaunlicherweise plötzlich vor Publikum aufgetreten. Das war ein anderes, sehr spannendes Erlebnis. Ein Publikum nur hinter einer Kamera zu ahnen und dann zu musizieren ist ein kreativer, sogar fast künstlicher Akt der Selbstaufregung.

Wie ist es Ihnen selber ergangen in dem Corona-Jahr?
Gerhaher: Ich habe natürlich auch große Verluste finanzieller Art hinnehmen müssen, aber ich hatte dennoch noch Auftrittsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu vielen anderen Musikern, für die wir jetzt auch kämpfen, hatte ich relativ Glück, hatte genug zu tun. Ich hatte die Gelegenheit, die Gesamteinspielung aller Schumann-Lieder fertigzustellen, und ich habe ein Buch fertiggeschrieben.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn die Pandemie irgendwann überwunden ist?
Gerhaher: Ich freue mich schon auf Konzerte vor Publikum. Aber ich freue mich auch auf Museen. Und da habe ich eigentlich am wenigsten Verständnis für die Politik. Das ist fast absurd. Wo gibt es sicherere Räume als die Museen? Wo gibt es mehr Möglichkeiten, die Umstände so genau der Pandemie anzupassen? Gerade die Museen haben doch meist eine hervorragende Klimatisierung, da es um die Bewahrung der wertvollen Exponate geht. Es gibt gerade so viele Menschen, die nicht richtig arbeiten können und die kaum eine andere Chance haben, als sich digital zu versorgen. Ich habe ja nichts gegen Netflix-Serien, die sehe ich auch. Aber man kann den Leuten doch nicht nur das anbieten. Das ist in meinen Augen politisches Totalversagen.

DK

Das Interview führteJesko Schulze-Reimpell.