"Bram Stoker war ein toller Typ"

Andreas Nohl hat mit "Dracula" einen Weltklassiker neu übersetzt – dabei wollte er das Projekt schon hinschmeißen

26.08.2012 | Stand 03.12.2020, 1:08 Uhr

−Foto: Szumyk

Erlangen (DK) Mit zwölf Jahren las er „Huckleberry Finn“. Da wusste Andreas Nohl, dass er Schriftsteller werden wollte. „Nichts hat mir den Horizont für die Welt so geöffnet“, sagt der 57-Jährige heute. „Das kann nur Literatur.“ Nohl arbeitet aber auch als Übersetzer, machte sich mit der Neuübersetzung von Werken Mark Twains und Robert Louis Stevensons einen Namen und hat gerade eine vielbeachtete kommentierte Neuübersetzung von Bram Stokers Klassiker „Dracula“ vorgelegt – pünktlich zu dessen 100. Todestag. Unsere Redakteurin Anja Witzke traf Andreas Nohl, der in Augsburg lebt, auf dem Erlanger Poetenfest.

Wie gehen Sie an ein Werk heran, das Sie übersetzen?

Andreas Nohl: Bei „Dracula“ bin ich nicht nur Übersetzer, sondern auch Herausgeber. Das heißt, ich war auch zuständig für die Textgrundlage. Ich musste den echten, wissenschaftlich beglaubigten Text finden. In Deutschland nennt man das die historisch kritische Ausgabe. Das gibt es im Englischen nicht. Also verglich ich diverse Textausgaben, die behaupteten, auf der Erstausgabe zu beruhen. Aber alle wichen voneinander ab. Und schon hatte ich ein Problem. Meine Übersetzungsgrundlage war dann die tatsächliche Erstausgabe, mit der sich zwar die Abweichungen vom Original klären ließen, doch auch dieses steckte voller inhaltlicher und sprachlicher Fehler. Im Gegensatz zu meinen Vorgängern, die sich an „Dracula“ gewagt hatten, standen mir aber „Bram Stoker’s Notes for Dracula“ zur Verfügung, die erst in den 90er Jahren publiziert worden waren, also die Informationen, die Stoker vor dem Schreiben gesammelt hat. Dadurch konnte ich mir ein sehr klares Bild von Stokers literarischem Ziel machen. Und erst dann fing ich an zu übersetzen. Aber ich war so entsetzt über die stilistischen Mängel des Buches, dass ich das Projekt nach etwa 50, 60 Seiten hinschmeißen wollte.

 

Was hat Sie bewogen weiterzumachen?

Nohl: Ich wusste von vornherein, dass Stoker als Schriftsteller eher zweit- bis drittrangig war. Er hat viele Bücher veröffentlicht, elf kitschige Romane über Liebe am Meer mit Schatzsuche oder so. Die finden heute bestenfalls antiquarisches Interesse. Mir ging es hauptsächlich um ein Experiment: nämlich darum, ein schlecht geschriebenes Buch der Trivialliteratur auf ein neues Niveau zu heben – ohne sich vom Original zu entfernen. Eine authentische Übersetzung, aber aufgrund des sprachlichen Niveaus ein besseres Buch. Denn Konzeption und Inhalt von „Dracula“ sind eben nicht trivial, sondern handeln auf neue Weise menschheitliche Themen ab.

 

Lagen Ihnen die anderen Übersetzungen vor?

Nohl: Ich habe mir die anderen fünf oder sechs Übersetzungen schon angeschaut. Dabei vergleiche ich natürlich nicht Satz für Satz, aber bei gewissen Stellen wollte ich einfach wissen, wie die anderen damit umgegangen sind. Man stößt auf viele Fehler. Aber es gibt keine Übersetzung, die nicht von Vorgängerübersetzungen profitiert. Trotzdem: Ich hatte einfach eine viel bessere Startposition: Ich hatte die „Notes“ – und das Internet.

 

Welche Rolle spielt denn das Internet?

Nohl: Eine sehr wichtige Rolle. Es hilft bei Unklarheiten. Man kann Namen und Orte überprüfen. Wenn etwa ein bestimmtes Café genannt wird. Bei Stoker wird – wie in der gesamten englischen Erzählliteratur – sehr viel gegessen und getrunken. Immer wieder trifft man sich in Restaurants. In „Dracula“ ging es um ein Café, das Frauen ohne Begleitung aufsuchen konnten. Denn das Buch handelt teilweise von der „neuen Frau“, der fortschrittlichen Frau, die selbstbestimmt und unabhängig leben wollte. Also: Man findet viele soziologische Informationen. Und das Buch bekommt plötzlich eine historische und soziale Schärfe, die es vorher nicht hatte.

 

Was haben Sie über Stoker gelernt? Was war er für ein Typ?

Nohl: Ich habe alles gelesen, was es über Bram Stoker zu lesen gibt. Natürlich habe ich viel gelernt. Ich weiß nicht, ob er mir sympathisch gewesen wäre, aber er war in jedem Fall ein toller Typ. Er war ein Hüne von Mann, der mit Florence Balcombe eine der schönsten Frauen seiner Zeit geheiratet hatte. Sie hatte übrigens Oscar Wilde einen Korb gegeben. Er war ein arbeitsamer Mensch, der viel Verantwortung tragen und auch zupacken konnte. In den späten 80er Jahren wurde er sogar berühmt und stand in allen Zeitungen: Er hatte einen Selbstmörder aus der Themse gerettet. Den Welterfolg von „Dracula“ erlebte er allerdings nicht mehr. Er starb 1912 an Erschöpfung.

 

Wären Sie ihm gern mal begegnet? Und worüber hätten Sie sich mit ihm unterhalten?

Nohl: Schwer zu sagen. Es gibt schon etwas Rätselhaftes in seinem Leben: Bis zu seinem siebten Lebensjahr war Stoker gehunfähig – und wurde später als Student in Dublin einer der besten Sportler seines Jahrgangs. Man hat dafür bis heute keine Erklärung. Es gibt da eine Theorie, dass noch zwei Kinder nach ihm kamen und er die Extremzuwendung seiner Mutter nicht aufgeben wollte. Wenn man Freud folgt, klingt das plausibel. Und Draculas merkwürdige Bewegungen, das Kriechen, Lucy Westenras Nachtwandeln – all das könnte zurückweisen in diese Zeit.

 

Sie haben auch Werke von Mark Twain und Robert Louis Stevenson übersetzt. Ist das die Art Literatur, die Sie gern lesen?

Nohl: Die gesamte englische Literatur der Moderne basiert auf drei Namen: Twain, Stevenson und Kipling. Sie haben erstmals das Kind als autonomes Lebewesen wahrgenommen. Die gesamte Kinderpsychologie, die um 1900 begann, die Erkenntnis, dass Kinder intelligente Wesen sind, mit einer ungeheueren Empathie und einem extremen Gerechtigkeitssinn, mit einer großen moralischen Kraft, die von Erwachsenen daran gehindert werden, ihr Leben zu leben – das haben diese Autoren vorweggenommen.

 

Viele Schriftsteller waren oder sind auch als Übersetzer tätig – angefangen von Georg Büchner über Heinrich Mann bis zu Harry Rowohlt. Sie selbst schreiben auch. Ist da erst das eigene Schreiben oder resultiert es aus der Beschäftigung mit fremden Texten?

Nohl: Das hat nichts miteinander zu tun. Eigentlich ist es ja so, dass das Übersetzen mich am Schreiben hindert.

Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat?

Nohl: „Huckleberry Finn“. Und „Call it Sleep“ von Henry Roth – ein Weltroman. Ich war 30 Jahre alt, als ich das Buch las, meine Frau bekam gerade ihr erstes Kind. Ich las Henry Roth – und schwitzte und weinte und lachte. Wenn ein Buch das erreicht, dann ist es ein großes Buch. Und dann kam das Kind zur Welt. Es war enorm. Ich schrieb damals einen Brief an Henry Roth und schickte ihn an Kiepenheuer & Witsch. Ein halbes Jahr passierte erst mal nichts. Ich rief beim Verlag an. Der Lektor fand den Brief unter einem riesigen Stapel, versprach aber, ihn an Henry Roths Agentin in New York weiterzuleiten. Vier Wochen später bekam ich eine Antwort. Henry Roth war so bewegt, dass er am Ende schrieb: „Ich bin schon ziemlich alt, aber wenn Sie in meine Nähe kommen, solange ich noch lebe, dann schauen Sie vorbei.“ Ich flog sofort hin. Es war irre. Er wohnte mit seiner Frau im Trailer in Albuquerque. Drei Tage war ich dort. Und schrieb anschließend einen Essay für die „Zeit“. Das war mein Einstieg als Kritiker – und damit begann auch mein Weg als freier Schriftsteller.