Augsburg
Was war, was ist, was alles sein kann

In seinem neuen Stück überprüft das Theater Augsburg die Errungenschaften der 68er-Bewegung

16.03.2018 | Stand 02.12.2020, 16:41 Uhr

Zeitreise: Marlene Hoffmann, Roman Pertl, Sebastian Baumgart, Patrick Rupar in der Uraufführung von Peer Ripbergers Stück mit dem sperrigen Titel "1968: Geschichte kann man schon machen, aber so wie jetzt ist's halt scheiße" am Theater Augsburg. - Foto: Fuhr

Augsburg (DK) Am Werteverlust sind sie schuld, an schlecht erzogenen Kindern und Erwachsenen ohne Benehmen, am Hedonismus und Narzissmus der Gegenwart, sogar an den Rechtsradikalen und dem Ende der Volksparteien. Und weil das alles so schlimm ist, plappern Menschen wie Alexander Dobrindt von einer konservativen Revolution, ohne zu wissen, was das bedeutet.

Nein, das haben die 68er alles auch nicht verdient.

Was 1968 war und nach 50 Jahren ist, fragt Peer Ripberger am Theater Augsburg auf ganz andere und eigene Weise. "1968: Geschichte kann man schon machen, aber so wie jetzt ist's halt scheiße" heißt schön sperrig, was er eine "Stückentwicklung" nennt. Damit ist schon signalisiert, dass das, was auf der Brechtbühne uraufgeführt wird, kein Theaterstück im eigentlichen Sinn ist. Was es ist, ist aber ebenso unklar.

Basierend auf umfangreicher Lektüre hat Ripberger seinen Zettelkasten befragt und eine Textcollage gesampelt. Wir sehen die fünf Schauspieler als Studenten- oder sonstige Diskussionsrunde. Es wird alles Mögliche geraucht und geredet. In mehreren Schleifen, teils als Chor, führen die fünf hinein in die Gedankenwelt von 68 und ihre sprachlichen Aggregatzustände: Da sind die selbstverliebte Kompliziertheit der Theorie, die Aggressivität des Agitprop, die Songs und ihre Sentimentalität ("Angie, you can't say we never tried"), der pathetische Messianismus derer, die den Weg genau wissen, die Macht der Fantasie und das Stakkato der Dogmatiker, die rhetorisch viel näher an denen waren, die sie bekämpfen wollten, als ihnen damals bewusst war.

Die Zuschauer streifen durch die Versatzstücke des Antifaschismus, des Antikapitalismus, der revolutionären Begeisterung, und dem, was dahinter steht: Nicht so werden zu wollen wie die Elterngeneration, anders zu leben, noch mehr: anders zu denken, zu fühlen, zu lieben. Dazwischen thematisiert sich das Stück immer wieder selbst. Ripberger hat eine Metaebene eingezogen, in der über die gesellschaftliche Rolle des Theaters nachgedacht wird. Fast erwartbar, so viel Brecht muss in Augsburg schon sein, und genau das wird in der Pause dann weiterverhandelt. Denn das Theater macht hier, was Theater sich seit Jahrzehnten, im Grunde auch seit 1968, auf die Fahne schreiben: sich öffnen, rausgehen, den Diskurs in die Stadt tragen. So stehen Schauspieler und Zuschauer draußen und machen zusammen irgendetwas zwischen Theater, Performance, Demo und einer Hommage an Martin Luther King. Jeder, der will, darf erzählen, von was er träumt. Vielleicht wird hier am greifbarsten, wie man diese Stückentwicklung verstehen kann, als Erkundung dessen, was die Träume waren, was sie heute bedeuten und was sie werden können oder niemals werden dürfen.

Denn im dritten Teil befinden wir uns mitten in einem solchen (anti-)utopischen Traum: eine Cyborg-Welt, bevölkert von Menschmaschinen, die gleichermaßen sediert wie bekifft wirken und eckig durch einen landwirtschaftlichen Urwald staksen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, den Rassen, zwischen Mensch, Tier und Natur sind aufgehoben, eine konfliktfreie Gesellschaft, vorgestellt und erklärt von einer zunehmend einschläfernden Stimme aus dem Off. Dieses "Raumschiff Erde" hat weniger mit 68 und den Ideen und Träumen der Revolutionäre und Hippies als mit Aldous Huxleys "Schöner neuer Welt" aus den 1930er-Jahren zu tun.

Ziemlich sorgenlos und ziemlich langweilig, diese Cyborg-Welt, auch wenn scheinbar alle mit allen dauernd Sex haben. Und am Ende, huch!, liegen die auch nackt in einer Badewanne. Aber darüber regen sich wohl nur ein paar konservative Konterrevolutionäre - wieder - auf. Ein ganz schöne Idee, dieser dritte Teil, auch weil er zeigt, dass es nicht reicht, die Träume seiner Jugend nicht zu vergessen, sondern man auch auf sie und ihre bedrohlichen Potenziale aufpassen muss. Aber eigentlich wissen wir das schon, und so ist es auch eine von den Ideen, die nicht über längere Zeit tragen. Deshalb verliert dieses Experiment gegen Ende doch sehr an dramatischer und intellektueller Spannung. Schade.

So darf und muss man diese Stückentwicklung weiterentwickeln und die Befragung, was nach 50 Jahren 68 noch bedeutet, fortsetzen. Wir haben ja noch fast das ganze Jubiläumsjahr dafür Zeit.

Nächste Aufführungen am 23. März und 6. April. Weitere Termine unter www.theater-augsburg.de.