München
Auf der Suche nach Schönheit

Vor 250 Jahren ist Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der modernen Kunstwissenschaft gestorben

07.06.2018 | Stand 23.09.2023, 3:27 Uhr
Prägte unser Schönheitsideal bis zur Gegenwart: Johann Joachim Winckelmann in einem Gemälde von Anton von Maron aus dem Jahr 1768. −Foto: Foto: Klassik Stiftung Weimar

München (DK) Auf dem Messer, das fein säuberlich für das Gerichtsprotokoll skizziert wurde, steht an zwei Stellen "sangue" - Blut.

Siebenmal stach der Mörder zu, um an die wertvollen Medaillen zu kommen, die ihm seine leichtsinnige Bekanntschaft voller Stolz gezeigt hatte. Dann flieht er hastig mit der Beute aus der Osteria Grande in Triest und bemerkt gar nicht, dass das Opfer noch lebt. Gegen 10 Uhr findet man den schwer verwundeten Mann in seinem Zimmer, etwa sechs Stunden bleiben ihm, um der herbeigeeilten Polizei den Tathergang zu schildern - und endlich seine wahre Identität preiszugeben.

Anders ist es nicht zu erklären, dass die Beamten gar so akribisch ermittelt haben. Denn mit dem Antikenforscher Johann Joachim Winckelmann ist am 8. Juni 1768 eine europaweit geachtete Berühmtheit gestorben. Der junge Goethe war erschüttert, und selbst Lessing hätte dem sprachgewaltigen Winckelmann gerne mehrere Jahre seines eigenen Lebens geschenkt. So schön und mit durchaus erotischem Unterton hatte noch keiner auf Deutsch über die Kunst geschrieben. Und bei allem Pathos wird man bis heute gepackt von der Begeisterung und Präzision, mit der Winckelmann die Kunst der alten Griechen beschrieb. Das heißt, die römischen Kopien, die er damals noch für Originale halten musste.

Genauso hat er seinen Zeitgenossen die Augen für Raffaels "Sixtinische Madonna" (1512) geöffnet und geschwärmt, "wie groß und edel ihr ganzer Contur" sei. Und dann ist es schon nicht mehr weit bis zur "edlen Einfalt und stillen Größe", diesem arg strapazierten Credo, das Winckelmann 1755 in seinem Schönheitsevangelium "Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst" formuliert hat. Der Apoll von Belvedere verkörperte für ihn das Vollkommene, genauso stand die Laokoon-Gruppe ganz oben in der Liste erlesenster Kunstwerke.
Damit schrieb Winckelmann auch entschieden gegen den Überwältigungsbarock und die verschnörkelt-überladene Kunst des Rokoko an. Bei allem Respekt, den er dem "großen Rubens" entgegenbrachte, waren ihm dessen wogenden Fleischberge samt Zellulite-Inseln ein Graus, denn sie seien "weit entfernt von den griechischen Umrissen der Körper". Und wenn wir ehrlich sind, sitzt dieses Schönheitsideal nach wie vor fest in unseren Köpfen. Vom Sixpack durchtrainierter Sportskerle bis zum wohlproportionierten Damenleib, der dank Bodyshaping keinerlei Problemzonen kennt. Wobei das Nonplusultra für den homosexuellen Winckelmann ein androgyner Körper war, in dem sich weibliche und männliche Elemente vereinen. In manchen Punkten nimmt das bereits den modernen Genderdiskurs vorweg.

Winckelmanns Ansprüche waren enorm, und für die zeitgenössische Kunst ließ er nur ein Rezept gelten: Um groß und unnachahmlich zu werden, muss das Alte, also die griechische Antike, nachgeahmt werden. Damit hat der Begründer der modernen Archäologie und der Kunstwissenschaft beträchtlich dazu beigetragen, den Klassizismus zu befördern.

Dass in der Antike so herausragende Kunst geschaffen wurde, führt der tief von der Aufklärung überzeugte Schöngeist auf die Freiheit der Griechen zurück. Das hat nicht zuletzt mit seiner eigenen Abhängigkeit zu tun, aus der sich Winckelmann nur durch Fleiß und Disziplin befreien konnte. Sowieso war der sagenhafte Aufstieg zur international anerkannten Kulturautorität für den 1717 geborenen Sohn eines Schuhmachers aus Stendal nicht vorgesehen. Doch schon in jungen Jahren gerät er immer wieder an Förderer, die sein Talent erkennen. Und die Leidenschaft für die antike Literatur tut ein Übriges. Unter der Schulbank liest er Homer im Original, und nachts erlaubt er sich nur ein paar Stunden Schlaf im Sitzen, um ja nicht zu viel Zeit zu verlieren.

Das Studieren ist die eine Seite, Winckelmann trifft aber auch auf einflussreiche Vermittler wie den päpstlichen Nutius Archinto, der ihn 1755 nach Rom holt, und bald darauf Alessandro Albani. Der Kardinal besitzt eine außergewöhnlich qualitätvolle Kunstkollektion, die gepflegt und bearbeitet werden will - und deren beste Stücke dank Ludwig I. in München gelandet sind. Dem längst zum Katholizismus konvertierten Protestanten aus Sachsen-Anhalt gelingt schließlich sogar der Sprung in den Kirchenstaat, wo er 1763 zum Commissario delle Antichità, also zum obersten Denkmalpfleger befördert wird.

Fünf Jahre bleiben ihm, um weiter zu forschen und sein entwicklungsgeschichtliches System der griechischen Kunst aufzustellen. Dann beschließt er auf dem Höhepunkt seines Erfolgs nach Deutschland zu seinen Anhängern zu reisen. Doch in Regensburg erleidet der labile Gelehrte einen so heftigen "melancholischen Anfall", dass es ihn nur mehr zurück nach Rom drängt. Sein Heimweg führt ihn allerdings über Wien, wo er von Kaiserin Maria Theresia die vier verhängnisvollen Medaillen erhält.

Franceso Archangeli ist übrigens nicht weit gekommen. In einem aufsehenerregenden Prozess wurde der Mörder Winckelmanns zum Tod durch Rädern verurteilt. Das Motiv? Habsucht und Gier gab der vorbestrafte Koch an, das ungeklärte Drumherum lässt dennoch Raum für die wildesten Spekulationen. Zumal Täter und Opfer Zimmer an Zimmer gewohnt haben und schon ein paar Tage miteinander durch Triest gezogen waren. Ob es zwischen dem Männer favorisierenden Ästheten und dem pockennarbigen Archangeli eine Affäre gegeben hat, daran scheiden sich die Geister. Winckelmann war jedenfalls inkognito unterwegs, und vielleicht haben auch seine strengen Ideale zwischendurch eine Pause gebraucht.

Christa Sigg