Amüsante Ein- und Aussichten

13.11.2020 | Stand 23.09.2023, 15:27 Uhr
"Der Dings, den kenne ich, der braucht gar nicht kommen, den fotografiere ich gleich auswendig." Fotograf Herbert Becke in Valentins Geburtshaus. −Foto: Becke, Volk Verlag

Karl Valentin war ein begnadeter Komiker und Wortakrobat. Ein neues Buch von Herbert Becke und Gunter Fette bringt höchst unterhaltsam München-Bilder und Valentin-Sprache zusammen.

 

München - Karl Valentin (1882- 1948) war Komiker, Schauspieler, Hypochonder, Philosoph. Vor allem aber war er ein Meister verbal-genialer Umständlichkeiten. Viele seiner Sprüche sind längst Allgemeingut geworden. "Mögen hätt ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut." "Des ignorieren wir net amoi." "Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht." Kann man nicht besser sagen, oder? Jetzt gibt es ein neues Buch. "Karl Valentin - Bildersprache" heißt es. Christian Ude beschreibt es in seinem Vorwort so: "Es ist genau genommen ein Bilderbuch, zu dem er nur die Bildunterschriften schreiben durfte, und das zu einem Zeitpunkt, als es die Bilder noch gar nicht gab."

 

Die Idee zu dem Buch entstand, weil Herbert Becke, seit fast 45 Jahren in der Fotoszene aktiv, immer wieder diesen stereotypen Satz hörte: Dieses Bild sagt mir nichts. "Irgendwann habe ich eigene Fotoarbeiten betrachtet und mich gefragt: Was würde mir dieses Bild sagen wollen? Und seltsamerweise sind mir bei relativ vielen Fotos Sprüche von Karl Valentin eingefallen", erzählt er. "Karl Valentin hat mein Leben verändert", sagt Becke - ganz ohne Pathos. Als 14-Jähriger war er Mitglied einer Laienspielgruppe. "Meine Mutter hat als Stenotypistin eine Zeit lang am Residenztheater gearbeitet und hatte eine Neigung zum Theater. Diese Laienspielgruppe war das einzige, was sie mir erlaubt hat." Auch wenn der Regisseur vom schauspielerischen Talent des jungen Becke wenig überzeugt war - er brachte ihm einen Text von Karl Valentin mit: "Das Aquarium", ausgerechnet der Text, mit dem der Komiker 1908 seinen Durchbruch in München feierte. "Ich habe den Text gelesen und war sofort infiziert", erinnert sich Becke. Er lernte ihn auswendig, reicherte ihn mit eigenen sprachlichen Improvisationen an - und präsentierte ihn beim nächsten Treffen. Zwei Jahre später, im Alter von 16 Jahren, gründete er mit Freunden die "Valentinaden-Bühne" und führte fortan Valentin- und Karlstadt-Klassiker in Jugendzentren und Altenheimen auf. Hannes König, Gründer des Valentin-Musä-ums, wurde auf ihn aufmerksam - und sein Mentor. "Wir durften nicht nur bei ihm im Musäum spielen, er ermöglichte uns auch, im Deutschen Theater aufzutreten. Ich war rundum Valentin-fanatisch." Nach einem kleinen Skandal löste sich die Truppe auf. Die Liebe zu Valentin blieb.

 

Für das Fotobuch-Projekt hat sich Becke erneut intensiv mit Valentin-Texten beschäftigt. Und holte sich einen Kenner mit ins Boot: Gunter Fette, der im Auftrag der Erben den urheberrechtlichen Nachlass des Wortakrobaten verwaltet. Becke traf aus seinem reichhaltigen Archiv eine Vorauswahl von 1000 Fotos. Gemeinsam suchten sie Bilder und passende Zitate aus. 127 haben es ins Buch geschafft. Nur vier Fotos hat Herbert Becke gezielt dafür gemacht, darunter ein komplett schwarzes Foto, produziert während einer nachgestellten Sonnenfinsternis - mit aufgesetztem Objektivdeckel.

 

Viele der Bilder zeigen eine ungewohnte Perspektive - nämlich vom Boden. "Dieser Perspektivwechsel hatte mehrere Gründe", verrät Becke. Zum einen stamme er "von unten", vom Harthof, einem Problemviertel im Münchner Norden, wo er bei der alleinerziehenden Mutter aufwuchs. Zum anderen stolperte er immer wieder über das Wort "bodenständig" und wollte es in Valentin-Manier beleuchten. Und zum dritten kannte er seine Heimatstadt und ihre Fotomotive so in- und auswendig, dass er einfach mal einen neuen Blickwinkel ausprobieren wollte. Also legte sich Herbert Becke samt Kamera auf den Boden, fand die ungewohnten Aus- und Einsichten spannend, kaufte sich ein neues Objektiv, experimentierte mit verschiedenen Techniken. "Wenn man am Boden ist und mit Weitwinkel fotografiert, schmilzt das, was ganz vorne und hinten ist, zusammen, alles dazwischen wird fotografisch verschluckt."

Fünf Jahre lang fotografierte er München hauptsächlich von unten. Oft löste das auch Irritationen aus. Eine alte Dame wollte den Notarzt holen. In der U-Bahn gab es nachts eine grenzwertige Begegnung mit Halbwüchsigen. Und natürlich fällt ein am Boden liegender Mann mit einer Kamera auch den Ordnungshütern auf - vor allem in unmittelbarer Nähe zu einem Geldautomaten. Das kurze Wortgefecht, das Karl Valentin vermutlich sehr, den Beamten eher weniger gefallen haben dürfte, führte staatlicherseits zu einer zeitintensiven Überprüfung sämtlicher Aufnahmen. Becke lacht, wenn er davon erzählt. "Auf jeden Fall ist so ein Perspektivenwechsel sehr kommunikativ." Sein Lieblingsbild stammt übrigens auch aus dieser Serie. Das Foto zeigt den Blick von unten auf den Eingang der Synagoge auf dem Münchner Jakobsplatz. Die Strukturen des Kanaldeckels im Vordergrund erinnern zum Teil an Gleise, zum Teil an Peter Eisenmans Stelenfeld in Berlin. Ein Bild - wie ein Verweis auf die deutsche Geschichte. Es ist stets das meist diskutierte Foto in Beckes Ausstellungen. "Und für mich das beste Beispiel dafür, dass einem Bilder was sagen können."

DK

 

Anja Witzke