Ingolstadt
Als ob alles nichts wäre

Downtown-Projekt des Stadttheaters: Sarah Schulze-Tenberge brilliert in Lisa-Maria Schachers PeterLicht-Inszenierung

20.10.2019 | Stand 23.09.2023, 9:04 Uhr
Verzweifeln an der Welt: Sarah Schulze-Tenberge ist in PeterLichts "Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends" im ehemaligen DK-Gebäude zu erleben. −Foto: Herbert

Ingolstadt (DK) "Es geht mir gut", sagt die junge Frau und lächelt breit ins Publikum.

"Ich war gesund, ich hatte Geld. " Job, Beziehung, Wetter - alles prima. Warum sitzt sie dann hier? An diesem Unort? In der Kälte dieses leerstehenden Hauses. Auf dem Boden liegen kaputte Heizkörper und zerknüllte Zeitungen, Kabel ragen aus Wänden und Decken. Eine Plane verdeckt die Fensterfront. Ein Versteck? Ein Zufluchtsort? Der Fernseher kündet von Krisen, Kriegen, Katastrophen. Und mittendrin diese namenlose Frau mit der Laufmasche im Strumpf und dem breiten Lächeln. "Es geht mir gut. "

Unter der Jeansjacke trägt sie ein schwarzes Shirt. "Psycho" steht drauf. Sollte einen das stutzig machen? So gut geht es ihr nämlich gar nicht. Vielleicht eher so mittelgut. Obwohl? Möglicherweise auch an der unteren Grenze von mittel, oder am oberen Rand von unten. Möglicherweise geht es ihr ganz schlecht. Möglicherweise hat sie die Apokalypse überlebt. Möglicherweise ist sie verrückt. Möglicherweise hat sie sich selbst isoliert, weil sie mit dem Leben da draußen nicht mehr zurechtkommt. Gibt es überhaupt noch ein draußen? Möglich ist hier alles.

"Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends" hat der Künstler, Musiker und Gesellschaftskritiker PeterLicht seinen Text genannt, mit dem er 2007 in Klagenfurt den Publikumspreis gewann. Ein unglaublicher Text, der leicht und plauderig daherkommt, aber ständig Purzelbäume schlägt und Aussagen so lange relativiert, bis sie in ihr Gegenteil verkehrt werden. Das Geld? Nichts als ein Haufen Schulden. Das komfortable Sofa? Hat es niemals gegeben. Statt Sonne ewig schwarze Nacht, statt eines einzelnen Regentropfens Schlammwasserkanäle. Da spricht einer mit Furor an gegen eine sich mehr und mehr auflösende Welt. Lisa-Maria Schacher hat den Text für ihre erste eigene Regiearbeit am Stadttheater Ingolstadt ausgewählt - und ihn mit Sarah Schulze-Tenberge im ehemaligen DK-Gebäude in der Donaustraße in Szene gesetzt. Gerade mal 40 Minuten dauerte die Premiere, die am Samstagabend frenetisch gefeiert wurde.

Wie soll man so einen Denk-Text theatral fassen? Wie soll man dafür Bilder finden? Geschweige denn ein Bühnenbild? Lisa-Maria Schacher hat sich klug gegen eine Bebilderung entschieden, sondern inszeniert eher die eigenartige Beschaffenheit des Textes, indem sie ihre Protagonistin durch höchst fragile Daseinszustände schickt. Dafür nutzt sie die Atmosphäre des leerstehenden Gebäudes, in dem früher die Ganghofersche Buchhandlung untergebracht war. Kahle Wände, grauer Estrich. Die Zuschauerreihen sind zur Fensterfront ausgerichtet, die zu Beginn noch mit einer Plane verhüllt ist. Draußen nächtliche Verkehrsgeräusche, drinnen Tanzmusik. Hier balanciert Schauspielerin Sarah Schulze-Tenberge auf dem schmalen Grat zwischen Banalität und Katastrophe. Ein gewollter Schlingerkurs. Ja. Nein. Vielleicht. So. Anders. Oder auch nicht. So sperrig der Titel, so verschwurbelt der Text. Elegant. Tiefsinnig. Komisch. Erschreckend. Sarah Schulze-Tenberge stellt sich diesem philosophsichen Armageddon mit trotzigem Zweckoptimismus entgegen. Sie sitzt. Sie geht. Sie steht. Sie redet. Schnell. Viel. Bisweilen hysterisch. Immer präzise. Verfällt in Melancholie. Wägt ab. Bringt den Text zum Funkeln. Und Regisseurin Lisa-Maria Schacher gibt ihr Raum. Arrangiert ihre Bühnenmittel dezent. Theaternebel. Licht. Videos. Innenleben. Außenwirkung. Ambivalenz als Dauerzustand. Ein spannender Kommentar zur Gegenwart.

ZUM STÜCK
Spielort:
Ehemaliges DK-Gebäude,
Donaustraße 11
Regie:
Lisa-Maria Schacher
Darstellerin:
Sarah Schulze-Tenberge
Vorstellungen:
bis 5. November, jeweils 20 Uhr, warme Kleidung ist angeraten
Kartentelefon:
(0841) 30547200

Anja Witzke