1000001 Gründe, das Leben zu feiern

Umjubelte Premiere in der Werkstatt: Steven Cloos macht „All das Schöne“ zum Herzschlagtheater

30.06.2022 | Stand 22.09.2023, 21:43 Uhr

Verliebt sein macht Schmetterlinge im Bauch: Steven Cloos als namenloser Erzähler. Foto: Jochen Klenk

Von Anja Witzke

Ingolstadt –1. Eiscreme. 2. Wasserschlachten. 3. Länger aufbleiben dürfen als sonst und fernsehen. Mit sieben Jahren beginnt er die Liste. Nach dem ersten Suizidversuch seiner Mutter. Während sie mit dem grauen Schleier auf der Seele kämpft, schreibt er für sie eine Liste mit all dem, was an der Welt schön ist: 1. Eiscreme. 2. Wasserschlachten. 24. Spaghetti Bolognese. 25. Einen Superhelden-Umhang tragen. 314 Sachen listet er auf – bis zu dem Tag, an dem sie aus dem Krankenhaus heimkehrt. „All das Schöne“ legt er ihr auf ihr Kissen. Acht Seiten. „Sie hat sie mir gegenüber nie erwähnt, aber ich wusste, dass sie sie gelesen hatte, weil sie meine Rechtschreibfehler korrigiert hatte.“

„All das Schöne“ hat der Brite Duncan Macmillan sein außergewöhnliches Theaterstück (ab 15 Jahren) genannt, das sich damit beschäftigt, wie Depression das Leben auf den Kopf stellen kann. Nicht nur das eigene, sondern das der ganzen Familie. Wenn ein Elternteil unter Depression leidet, kann das Auswirkungen auf die Kinder haben: Unverständnis, Schuldgefühle, Überforderung, Ohnmacht, Wut – und die Angst, selbst an Depressionen zu erkranken. „Man kann noch so genau wissen, dass man nicht Schuld ist, man hat trotzdem das Gefühl, versagt zu haben. Es ist ungerecht, dass man das fühlt. Aber es ist normal“, sagt der Erzähler an einer Stelle.

Johanna Landsberg hat „All das Schöne“ zum Auftakt des Südwind-Festivals als intensives Theatererlebnis auf die Werkstattbühne des Jungen Theaters Ingolstadt gebracht. Den Erzähler spielt Steven Cloos – ein Glücksfall für diese Rolle. Denn er schafft es nicht nur, aus der erinnernden Perspektive des Erwachsenen dem naiven Kind, dem zornigen Teenager, dem verzagten Studenten Gestalt zu verleihen, 7, 17, 27 zu sein, er zeigt diese Figur auch in all ihrer Unsicherheit und Verletzlichkeit und beweist darüber hinaus großes Improvisationsgeschick. Denn der Clou an Macmillans Stück ist, dass sein Protagonist sich immer wieder Hilfe aus dem Publikum holt, den Zuschauern kleine Rollen anvertraut – den Tierarzt, den Vater, eine Dozentin, die erste Liebe. Charmant weist er sie an, gibt Texte vor oder lässt sie spontan agieren. Und alle machen mit. Schon vor der Vorstellung hatte er das Gespräch gesucht und Post-it-Zettel verteilt, die später – an den passenden Stellen – vorgelesen werden. Das Publikum sitzt zum Teil mit auf der Bühne, hilft aus mit einem Stift, einem Buch, einem Song. Und wird so – das Licht bleibt an – unweigerlich Teil dieser Geschichte, die trotz des schweren Themas so federleicht, ja komisch daherkommt.

Das liegt zum einen an dem kraftvollen, klugen, poetischen Text, zum anderen aber auch an Steven Cloos’ phänomenalem Spiel. Regisseurin Johanna Landsberg schafft ihm Raum für diese kräftezehrende Erkenntnisreise. Und er nutzt ihn, um diese Biografie in all ihrer Verwundbarkeit zu erzählen und um dieser inspirierenden Liste wundersam und berührend Leben einzuhauchen. Denn in den verschiedenen Lebensphasen – Studium, erstes Date, Heirat, Trennung, Tod der Mutter − wird daran weitergearbeitet, nähert sich irgendwann der Million. Lebenbejahende Kleinigkeiten. Hoffnungsfunken. Selbstvergewisserung. Immer wieder zitiert Steven Cloos aus der Liste. Und das ist wie ein Atemholen. 9999. Die ganze Nacht durchreden. 525924. Track 7 auf allen tollen Platten.

Musik spielt eine große Rolle in dieser Inszenierung. Liebe und Tod, Angst und Traurigkeit werden zum Soundtrack dieser Biografie. Steven Cloos nimmt das Publikum mit auf einen emotionalen Parforceritt – wild und still und euphorisch und bitterzart. Wie im Rausch beschreibt er Tür, Wände und Boden mit „all dem Schönen“, das zu leben lohnt, während sich „One More Light“ von Linkin Park auf dem Plattenteller dreht. Wenige Monate nach Erscheinen des Albums hatte sich Sänger Chester Bennington das Leben genommen.

UND TROTZDEM. Trotz des Schmerzes ist Macmillans Monolog ein Plädoyer für das Leben. Das einen mit einem guten Gefühl entlässt. Weil es von Hoffnung erzählt. Und davon, wie Gemeinschaft einen durch die dunklen Stunden tragen kann.

999999. Eine Aufgabe abschließen. 1000000. Eine Platte zum ersten Mal anhören. 1000001. Ein herzzerreißend schöner Theaterabend wie dieser.

DK




ZUR PRODUKTION

Theater:

Junges Theater Ingolstadt

Regie:

Johanna Landsberg

Ausstattung:

Johanna Rehm

Vorstellungen:

derzeit nur für Schüler,

Wiederaufnahme 2022/23

Kartentelefon:

(0841) 30547200