Ingolstadt
Den Schnüfflern bleibt nichts verborgen

26.02.2010 | Stand 03.12.2020, 4:13 Uhr

Der Weg von Anne Mustermann durch Berlin: Der ChaosComputerClub hat ein Beispiel entwickelt, an dem sich gut nachvollziehen lässt, dass staatliche Ermittler nur anhand der bei der Vorratsdatenspeicherung festgehaltenen Daten nicht nur der Weg eines beliebigen Handynutzers verfolgen können. Auch private Vorlieben, enge Freunde und sogar persönliche Probleme lassen sich aus so einem Protokoll herauslesen.? Grafik: ChaosComputerClub

Ingolstadt (DK) Die Vorratsdatenspeicherung, über die das Bundesverfassungsgericht am Dienstag entscheidet, macht uns alle zu gläsernen Bürgern. Eine Übertreibung? Wohl kaum: Der ChaosComputerClub (CCC), einst der Schrecken aller Softwarehersteller, heute geschätzter Berater vor allem in Sicherheitsfragen rund um den Computer, hat ein Szenario entwickelt, an dem sich ablesen lässt, wie einfach staatliche Behörden mit wenigen dürren Daten ein umfassendes Bild jedes einzelnen Bürgers entwerfen können.

So wird aus dem angeblich zur Terrorbekämpfung entwickelten Instrument ein nahezu perfekter Bespitzelungsapparat. Frank Rieger und Constanze Kurz vom CCC haben im Rahmen des Verfahrens zur Vorratsdatenspeicherung eine Vorlage für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erarbeitet. Mit dem Papier weisen sie nach, wie weit die Überwachungsmöglichkeiten durch die Vorratsspeicherung gehen – "ohne dass auch nur ein einziges Telefon abgehört werden muss", wie das CCC-Duo betont. Zudem könnten die erfassten Daten per Computer automatisch ausgewertet werden, entsprechende Programme gibt es längst.

Kurz und Rieger haben für ihre Expertise eine Anna Mustermann geschaffen, die vor allem per Handy kommuniziert. Weil im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung nicht nur die Zeit und der Gesprächspartner, sondern auch der Ort, von dem aus das Gespräch geführt oder an dem die SMS abgeschickt wird, gespeichert wird, lässt sich genau nachvollziehen, wo sie unterwegs war. Das Handy nimmt bei jedem Gespräch Kontakt mit dem nächstgelegenen Mobilfunksender auf. Weil in städtischen Gebieten mehr Antennenmasten stehen und die von ihnen abgedeckten so genannten Funkzellen deshalb eher klein sind, lässt sich sehr genau verfolgen, wo sich der Handynutzer aufgehalten hat.

Der CCC hat Anna Mustermann, die eigentlich in Brandenburg wohnt, nach Berlin geschickt. Schon zuvor hatte die Frau mit der Beratungsstelle Kinderwunsch Kontakt aufgenommen. Zwischen ihrer Ankunft am Regionalbahnhof im Stadtteil Charlottenburg und dem Eintreffen in der Beratungsstelle (sie telefoniert aus der Funkzelle, in der auch das Gebäude der Beratungsstelle steht), schickt sie mehrere SMS an eine Freundin in ihrem Heimatort. Zudem telefoniert sie mit einem Bekannten in Berlin, Jakob Maria Mierscheid. Wie eng die beiden zueinander stehen lässt sich daran ablesen, dass sie im Lauf des Tages vierzehn Mal miteinander telefonieren. Zudem treffen sie sich am Abend in einer Bar und gehen nachher gemeinsam in ein Hotel. Warum die staatlichen Schnüffler das wissen könnten? Kurz nachdem Anna Mustermann mit Mierscheid telefoniert hat, ruft er zuerst in einem Hotel an, unmittelbar danach in einer Bar. Und am Abend schicken beide aus den Funkzellen, in denen sich die Bar beziehungsweise das Hotel befinden SMS an Bekannte.

Doch damit ist die Geschichte von Anna Mustermann nur zur Hälfte erzählt. Wie gesagt, sie sucht die Beratungsstelle Kinderwunsch auf. Von dort telefoniert sie mit einem Gynäkologen in der Charité, wenige Stunden später verschickt sie eine SMS aus der Funkzelle, in der sich auch das größte deutsche Krankenhaus befindet. Den ganzen Tag hält sie zudem Kontakt zu ihrer Freundin im Heimatort. Aus diesen dürren Daten zu schließen, dass Anna Mustermann offensichtlich unter einem unerfüllten Kinderwunsch leidet, fällt nicht schwer.

Dieses Szenario, das einen erschreckend tiefen Einblick in die Privatsphäre der Betroffenen bietet, lässt sich beliebig übertragen. Auch in Ingolstadt ließe sich ohne Probleme ein relativ genaues Bewegungsprofil erstellen – allein zwischen dem Neuen Schloss und dem Münster durchquert man drei Funkzellen.

Für Datenschutzexperten wie Frank Rieger und Constanze Kurz ist deshalb die Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung durch das Verfassungsgericht nur ein Schritt. Letztlich müsse das Gericht festlegen, in welchen Grenzen solche Daten überhaupt ausgewertet werden dürfen, fordern die Experten. Sie wurden auch schon vor der Vorratsdatenspeicherung erfasst – zur Erstellung detaillierter Telefonrechnungen.