Die Welt ist eine Google

01.01.2009 | Stand 03.12.2020, 4:22 Uhr

 

2010, das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen, wird das Jahr Google sein. In der ersten Januarwoche wird der Konzern ankündigen, dass er sein neues Handy in Amerika und bald danach in Deutschland einführen wird.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass es – angeboten ohne Vertragsbindung und fähig, jede Sim-Karte aufzunehmen – eine weitere Techno-Kaskade auslöst. Gleichzeitig startet der Konzern seine Echtzeitsuche, die zu einer neuen Phase von Gleichzeitigkeit führen wird: Echtzeitpolitik, Echtzeitkonsum, Echtzeitjournalismus. Wer eine Ahnung von Echtzeitkommunikation haben will, kann bei Twitter "Avatar", den Titel von James Camerons neuem Film, eingeben. Innerhalb von zwei Minuten treffen durchschnittlich fünfhundert neue Tweets ein. Da die kein Mensch lesen und verarbeiten kann, werden neue Algorithmen (also für die Menschen unter unseren Lesern, nicht für Google.news: keine Menschen) werten, gewichten und einordnen. Google wird (wenn man es will, geht das heute schon) Menschen- und Autoverkehr präziser vorhersagen können als jedes Verkehrsüberwachungssystem, weil der Konzern über GPS die Bewegungen der Handys analysiert. Nur durch stumme Bewegung füttert jeder das Netz.
 
Doch der hungrigste Informationsfresser sagt zum ersten Mal, dass er etwas, das er bereits entwickelt hat, vorläufig nicht einsetzen wird. Google-Handys können, wie man überall las, über Scannerfunktionen vom Eiffelturm bis zur Apfelsine Objekte erkennen und über das Netz alle Informationen für denjenigen abrufen, der sein Handy auf einen Gegenstand hält. Das geht allerdings, was man sehr viel seltener las, auch mit menschlichen Gesichtern. Sofern man ein Foto von sich irgendwo im Netz gespeichert hat, kann die Kamera erkennen, wer das ist, der da gerade im "Café Einstein" sein Frühstück bestellt. Für den Fall, dass die Informationen zu unübersichtlich sind, steht auch hier bereits ein entsprechender Algorithmus bereit.
 
Hat man es sehr eilig, kann man sich über einen anderen Anbieter den digitalen Barcode eines Menschen aus dem Netz anzeigen lassen. Google wird die Applikation, die bereits entwickelt ist, aus Datenschutzgründen vorläufig nicht anbieten. Vielleicht tut es ein anderer. Es gibt ähnliche Software, die die Identität dieses netten jungen Mannes auf sein T-Shirt projiziert. Weltweit sitzen Tausende Menschen an Computern, die für ein paar Cent pro Bild die Rechner nachjustieren und ihnen beibringen, Bilder und Gesichter besser zu erkennen. Diese Hits ("Human intelligence tasks", also menschliche Intelligenzaufgaben) werden überflüssig, wenn Millionen von Usern die Software korrigieren – sie wird sich innerhalb von wenigen Jahren perfektionieren.
 
Wo wir sind, ist das Netz

 
Mindestens so effektvoll sind die Algorithmen des nächsten big hit, der "vorhersagenden Suche". Ursprünglich – und mit Erfolg – in Amerika für die Terrorabwehr entwickelt, wird daraus im Echtzeitinternet ein Überlebenswerkzeug. "Was erwartet mich, wenn ich heute ins Kino gehe" ist weit mehr als die Frage, ob der Film gut oder schlecht ist. Je mehr Leute mitteilen, in welches Kino und mit welchen Gefühlen sie dahin gehen, desto exakter wird die Summe sein, die die Algorithmen aus all diesen Informationen ziehen werden. Vernetzungstheoretiker erfreuen sich gerade an der Frage, wie lange es dauern wird, bis wir über das Handy erfahren, welches Frühstück dieser uns unbekannte Mensch sich höchstwahrscheinlich gleich bestellen wird – ist er ein eifriger Lebensalltagsblogger, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass es nicht mehr lange dauert.
 
Das Jahr 2010 könnte das Jahr sein, in dem der immer blasser gewordene Begriff "virtual reality", der Übergangsbegriff des letzten Jahrzehnts, endgültig verlöschen wird. Die Brücke zwischen virtueller und wirklicher Wirklichkeit bricht gerade hinter uns zusammen, kaum dass wir den ersten Fußtritt ins neue Jahr gesetzt haben. Es ist ganz anders gekommen als gedacht. Die Menschen treten nicht mit Cyberhelmen und digitalen Handschuhen bewaffnet in ein Paralleluniversum des zweiten Lebens ein. Wir sind, wo wir auch sind, im Netz.
 
Das Öde an der deutschen Internetdebatte ist, dass sie weitgehend eine Mediendebatte ist. Jeden Tag neue "zehn Thesen über die Zeitung" sind erfreulich, aber auf Dauer auch etwas langweilig. Diese Obsession hat damit zu tun, dass hier am unmittelbarsten über Marktinteressen verhandelt wird und die entscheidende Intelligenz, die Softwareingenieure und Informatiker, unter sich bleibt. Wir reden über die "Rhein-Zeitung" oder diese Zeitung, aber nicht über Google. Das hat damit zu tun, dass wir in einer Zeit des freien Zugangs zu allen Inhalten über nichts so wenig wissen wie über Googles Algorithmen. Die Black Box im innersten Herzen dieses Giganten, hindert aber nicht an der Frage: "Was würde Google tun" Als wäre die Frage nicht: "Was t u t Google" Gerade die glühendsten Blogweltvertreter des Neuen führen die Debatte rein nostalgisch und defensiv. Manche dieser digitalen Intellektuellen, besonders die Berater und Werbeträger, die "wordpress" bedienen können und wissen, wie Blogs funktionieren, wissen oft nicht mehr und nicht weniger als Millionen andere auch. Was sie unterscheidet – und das ist relevant –, ist kein Wissen, sondern eine soziale Erfahrung. Aber wer seine Heizung mit Atomstrom betreibt, weiß dennoch nichts über die Abgründe des Manhattan-Projekts.
 
Des Pudels Kern
 
Das Wesen der neuen Technologien ist, dass es praktisch niemanden mehr gibt, der sie nicht bedient und benutzt. Sie sind, seit es die Maus gibt, Spielzeug. Sie sind kinderleicht. Und wir diskutieren im Augenblick immer noch so wie Kinder, die bei "World of Warcraft" besser sind als andere.
 
Es geht hier im Kern um Systeme, die menschliche Kommunikation industrialisieren, extrahieren und ausbeuten. Es geht um das Geschenk der freien Meinungsäußerung für alle und jeden. Und es geht darum, wie die Inhalte dieser Meinungsäußerungen in Systemen perfektioniert werden, die menschliches Verhalten aufzeichnen, auswerten und für industrielle Zwecke verwerten. Niemand kennt Googles Algorithmus – und erst recht nicht diejenigen all der kleinen Googles, die in Unternehmen exakt auf die Bedürfnisse des Personalmanagements zugeschnitten werden –, aber es ist eindeutig, dass dieser "Verarbeitungsprozess" in Wahrheit eine moderne Form der Bürokratie ist. Stattdessen eine Debatte darüber, ob man die Maschinen lieben oder abschaffen wolle. Es ist Zeitvergeudung, darüber zu diskutieren: Als wiederholte sich das 19. Jahrhundert, als ginge es um Technikfreunde und Technikfeinde, um die Eisenbahn oder den Fernseher – als wäre eine Position denkbar, die sich eine Welt ohne Computer überhaupt noch vorstellen könnte. Als könnte sich irgendjemand der Faszination dieser Technologien entziehen. Doch gerade das, um ein aktuell von Google gelesenes Buch zu zitieren, ist ja des Pudels Kern: Es gibt diese Vorstellung nicht nur nicht – die soziale Welt vor dem Netz versinkt auch immer mehr ins Vergessen. Und auch die sonderbare Aggressivität, die den Siegeszug der neuen Technologien begleitet, sollte einem zu denken geben. Die psychologischen, fast libidinösen Ursachen dieses "bad karma" (Nicholas Carr) hat der Philosoph Alexander Galloway formuliert. Wir halten Computer für Masochisten, die alles für uns erledigen, nie klagen und immer noch mehr Arbeit wollen. In Wahrheit, so Galloway, sind es Sadisten.
 
Lächelnde Oberfläche 
 
Das zu erkennen wäre ein erster Schritt. Wir können ohne sie nicht leben. Sie helfen uns. Aber sie quälen uns auch. Nicht durch Lärm, Abgase oder Strahlung. Sondern indem sie unsere Wünsche erfüllen wollen. Wünsche sind Gedanken. Die Soziologin Danah Boyd hat sich für ihre Forschungen das fünf Jahre alte elektronische Posteingangsfach eines vierundzwanzigjährigen Jungen namens Mike angeschaut. Sie fand heraus, dass Mike Verbindungen zu 11,7 Millionen Menschen in der Welt hat. Und ehe jetzt die üblichen Vorschläge kommen: Stecker ziehen oder tanzen gehen!, sollte man bedenken, dass es ganz gleichgültig ist, ob hier einer den Stecker zieht. Es gibt keine Innen- und keine Außenwelt mehr, was den Einfluss des Netzes auf unser Leben angeht, und jede Debatte, die diese Dialektik noch behauptet, macht es sich zu leicht. 

Die lächelnde Oberfläche der gegenwärtige Debatte ist das World Wide Web. Aber das Internet ist weit mehr als das Web, das wir über unsere Browser abrufen. Könnte man es hören, sagt der Wissenschaftshistoriker George Dyson, würde man eine Art fortlaufenden Gewispers mathematischer Kommunikation hören. Die Komplexität des Netzes ist in den letzten vierundzwanzig Monaten so sehr gewachsen, dass das in Deutschland so beliebte Medienthema fast sekundär geworden ist. Die faszinierende Erkenntnis, die Google selbst dem Gelegenheitssurfer zeigt, ist, dass bei genügend großem Input und mithilfe mächtiger Algorithmen einzig über Korrelationen, über die dauernde Verknüpfung von Inhalten, unglaublich genaue Aussagen möglich sind – auch wenn der Computer nicht versteht, womit er umgeht. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Google ist nicht schlecht, Google und das, wofür es steht, ist viel genialer, als viele heute sich noch vorstellen können. Glaubt irgendjemand, hier ginge es im Letzten um die Frage, wie Kundus und Afghanistan mit Guttenberg zusammenhängt? Oder um die Frage, ob Zeitungen Geld für Inhalte nehmen sollen? Es geht dort, wo es ernst wird im Leben, zum Beispiel um die Frage, ob man heute noch den Lohn wert ist, den der Arbeitgeber einem in zehn Jahren wird zahlen müssen. Oder den Tarif, den die Krankenkasse verlangt.
 
2010 wird auf dem Feld des mobilen, vulgo: allgegenwärtigen Netzes eine Zäsur sein. Es mehren sich die Stimmen, die Computererziehung, digitale Alphabetisierung – mittlerweile ein glänzendes Geschäftsmodell von als Psychologen getarnten Unternehmensberatern – fordern, und die Forderung ist gewiss nicht ganz falsch. Entscheidender aber ist, zu erkennen, was Joseph Weizenbaum schon vor Jahrzehnten formulierte: die Regisseure unserer Existenz sind die Softwarecodes, und je perfekter sie werden, desto notwendiger werden Dolmetscher, die sie in Alltagssprache übersetzen. Das ist eine noch völlig unterschätzte Aufgabe für eine Gesellschaft, die Wert darauf legt, nicht an Drähten geführt zu werden. Es wäre ein Auftrag für die Zeitungen.
 
"Selbst wenn wir imstande sind, herauszufinden, was richtig und falsch ist, können wir immer seltener sagen, warum es so ist." Dieser verzweifelte Satz des Mathematikers Steven Strogatz beschreibt nicht nur ein akutes wissenschaftliches Dilemma. Mag sein, dass wir uns für uns selbst auch zukünftig trauen zu sagen, warum wir etwas richtig oder falsch finden. Denn es dauert lang, bis der Mensch zugeben kann, nicht zu wissen, was er tut. Aber wie geht man mit denen um, die zu wissen glauben, wer man ist, weil sie auf mächtige Instrumente vertrauen, die unsere Daten miteinander in Beziehung gesetzt haben? Die Freunde, der Arzt, der Arbeitgeber, die Einwanderungsbehörde? Wo weckt man Zweifel? Wo erhebt man Einspruch? Wie zeigt man den Fehler in der Berechnung? Wie macht man überhaupt klar, dass es nur eine Berechnung ist? Die Beantwortung dieser Fragen ist entscheidend für die Zukunft in der digitalen Gesellschaft. Man kann auch sagen: Es ist das, was Kunst, die Computer nicht können, von Mathematik unterscheidet: Es muss nichts so sein, wie es ist.