PNP-Spendenaktion
Notunterkunft-Leiterin in Lviv: „Ich will nicht, dass mich jemand weinen sieht“

02.12.2022 | Stand 18.09.2023, 21:06 Uhr

Viktoria Fiohnostava im Schlafsaal ihrer Notunterkunft in Lviv: Als Leiterin einer Einrichtung, die von der ukrainischen NGO Tvoya Opora, einer Partnerorganisation von CARE, getragen wird, kümmert sich die 33-Jährige sieben Tage die Woche um geflüchtete und vertriebene Landsleute. Ihre größte Sorge ist derzeit, wie sie die Bewohner warm und sicher durch den Winter bringen kann. −Foto: Roman Yeremenko/CARE

Von Eva Fischl

Der Krieg hat die Pläne der TV-Produzentin Viktoria Fiohnostava durchkreuzt. Aus der Kiewer Fernsehfrau wurde die Leiterin einer Notunterkunft in Lviv. Dort organisiert sie nun den Alltag von geflüchteten Frauen und Kindern - und verdrängt angesichts des Leids, das ihr jeden Tag begegnet, die eigenen Tränen.



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Wenn Viktoria Fiohnostava in diesen Tagen ihren 33. Geburtstag feiert, wird sie sich vor Glückwünschen sicher kaum retten können. Denn zu ihrer „neuen Familie“, wie sie es nennt, zählen aktuell 150 Menschen. Die Ukrainerin leitet seit dem Frühjahr eine Notunterkunft in Lviv (deutsch Lemberg). Der Träger, die ukrainische Nichtregierungsorganisation (NGO) Tvoya Opora, wird von der Hilfsorganisation CARE unterstützt. 150 Flüchtlinge, die meisten von ihnen Frauen, Kinder und Senioren, sind auf dem Gelände gerade untergebracht. Sie stammen aus Teilen des Landes, in denen immer noch Krieg, Gewalt und Zerstörung herrscht, sie haben ihre Häuser oder Wohnungen verloren und brauchen ein sicheres Dach über dem Kopf.

Mehr als 2700 Menschen beherbergt



In den vergangenen Monaten habe die Unterkunft schon mehr als 2700 Menschen beherbergt, sagt Viktoria Fiohnostava. Manche bleiben nur wenige Tage, bevor sie weiterziehen, andere länger. „Einige unserer Bewohner sind von Anfang an da - sie haben keinen Ort, an den sie zurück können oder eine andere Anlaufstelle im Westen“, erzählt Viktoria. „Sie sind mir in den letzten Monaten besonders ans Herz gewachsen“, berichtete die große, dunkelhaarige Frau im Videotelefonat mit unserer Zeitung. Sie sitzt in ihrem notdürftig eingerichteten Büro, an der Wand dahinter hängt die gelb-blaue Flagge der Ukraine. Der Stoff wirkt wie ein Mahnmal.

Dass sie ihren Geburtstag hier in Lviv in einer Flüchtlingsunterkunft feiern würde - zu Beginn des Jahres unvorstellbar für Viktoria. Die TV-Frau, die zwölf Jahre für den Kiewer Fernsehender STB Reportagen über soziale und gesundheitspolitische Themen produzierte, hatte ganz andere Pläne.

Krieg statt Liebesserie, Flucht statt Urlaub



Anfang Februar quittiert sie ihre Stelle, um beruflich neue Wege zu gehen. Ab April will sie eine melodramatische Liebesserie produzieren - die Dreharbeiten in Irpin sind schon angeleiert. Ein einwöchiger Urlaub auf Zypern im März ist schon gebucht. „Doch es kam anders, wie wir alle wissen“, sagt Viktoria. Sie bemüht sich um ein Lächeln, das ihr nicht so recht gelingen will.

Die eigenen Erinnerungen an den 24. Februar 2022 sind schmerzhaft. Viktoria ist gerade bei ihrer Schwester in dem Kiewer Vorort Butscha zu Besuch, jenem Ort, der mit dem „Massaker von Butscha“ traurige Berühmtheit erlangen und stellvertretend für die Kriegsverbrechen russischer Soldaten an Zivilisten stehen wird. Die Bilder von Menschen, die gefesselt, gefoltert und getötet auf der Straße liegen, werden um die ganze Welt gehen.

„Am 7. März entschieden wir uns zur Flucht“

Viktoria erzählt: „Meine Schwester weckte mich am 24. Februar um 5 Uhr morgens auf und sagte mir, dass Krieg ist. Das war für uns unvorstellbar. Ab dem 26. gab es keinen Strom mehr, kein Wasser, alles war zerstört, die Lebensmittel wurden knapp. Wir hatten so große Angst, vor allem um meinen zweijährigen Neffen, konnten aber nicht weg, weil die russischen Besatzer die Gegend kontrollierten.“ Dann habe sich im Ort das Gerücht verbreitet, dass die Kadyrow-Truppe im Anmarsch auf Butscha sei. „Am 7. März entschieden wir uns zur Flucht. Wir sagten uns: Lieber auf der Flucht sterben als dort bleiben und diesen Schlächtern in die Hände fallen“, berichtet Viktoria.

Mit ihrer Schwester, ihrem Schwager und dem kleinen Neffen flieht sie überstürzt in Richtung Lviv. Doch die Stadt ist voll mit Menschen, die Schutz suchen. Sie fahren weiter in den Südwesten. In der Region Iwano-Frankiwsk finden sie Zuflucht in einer alten Waldhütte, die der Urgroßmutter einer Kollegin gehört. Kein Strom, kein fließendes Wasser - aber zumindest keine Kämpfe. Der Schwager schließt sich der Nationalarmee an, die Schwestern nehmen noch zwei verwandte Mädchen aus Kiew auf.

Sieben Tage die Woche in der Unterkunft



„Wir hatten keine Arbeit mehr, brauchten dringend einen Job“, berichtet Viktoria. Nach wochenlanger Suche stößt sie auf die Stellenausschreibung der ukrainischen Hilfsorganisation, die eine Leiterin für eine Notunterkunft in Lviv sucht. Viktoria bewirbt sich - und wird eingestellt.

„Seither verbringe ich sieben Tage die Woche in der Unterkunft“, sagt die Ukrainerin. Sie sortiert Kleidung und Spielsachen, schreibt Dienstpläne, kümmert sich um Formulare und Anträge, inspiziert Luftschutzkeller, organisiert den Alltag der Menschen, die ihr anvertraut sind - ist vor allem ihre emotionale Stütze. „Ich kann die Geschichten der Bewohner nicht wegdrücken, wir haben eine starke Bindung. Sie sind mir die wichtigsten Menschen geworden“, sagt Viktoria. „Jeder hilft jedem, so gut er kann.“ Die Ukrainerin bemüht ein Bild, um den Zusammenhalt in ihrem Land zu beschreiben: „Seit dem Krieg sind die Ukrainer wie Ameisen in einem großen Haufen. Alle arbeiten zusammen gegen den Feind.“

„Er sagt nur kurz: Alles gut. Ich lebe.“



Sogar Patentante ist Viktoria Fiohnostava schon geworden - von einem kleinen Engel namens Seraphim. Als Baby kam er in die Unterkunft. In seiner umkämpften Heimatstadt Charkiv hatten die Eltern keine Möglichkeit, ihn taufen zu lassen. Die Feier wird in Lviv nachgeholt, Viktoria als Patin auserkoren. „Das war eine große Ehre für mich“, sagt Viktoria.

Die tägliche Arbeit verdrängt die Sorge um die eigene Familie. Bisher sei sie verschont geblieben. Ihre Schwester, die Mädchen und ihr Neffe sind nach Kiew zurückgekehrt, haben Unterschlupf bei den Eltern gefunden. Doch ihr Schwager kämpft weiter in der Armee. Seine Einheit werde immer wieder an die Front geschickt. Was er erlebt, darf er am Telefon nicht verraten. „Wenn er meine Schwester anruft, sagt er nur kurz: Alles gut. Ich lebe.“

Sein traumatisches Erlebnis hat er auf ein Blatt Papier gemalt



Andere leben nicht mehr. Wie der Vater eines ihrer Schützlinge in der Unterkunft. Der Junge wäre beinahe Augenzeuge davon geworden, wie sein Papa im Auto erschossen wurde. Sein traumatisches Erlebnis hat er auf ein Blatt Papier gemalt. Das Bild hängt an einer Galeriewand in der Unterkunft neben vielen anderen Bildern von Kindern, die ihre schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten versuchen. Sie ermahnen Viktoria jeden Tag, nicht nachzulassen, weiterzumachen und Lösungen zu finden für die Menschen in dem vom Krieg so geschundenen Land.

Was der Leiterin am meisten Kopfzerbrechen bereitet, ist, wie sie ihre Bewohner am besten durch den Winter bringt. Das Areal wurde der NGO von der Staatsfirma UK Telekom für einen symbolischen Preis zur Verfügung gestellt. Lebensmittel, Kleidung und Möbel werden gespendet. Auch die Personalkosten des kleinen Helferteams seien überschaubar. Doch die hohen Energiepreise und die unsichere Infrastruktur machen die Situation prekär. Viktoria rechnet mit einer Verfünffachung der Nebenkosten im Winter, Heizlüfter und Stromgeneratoren sind Mangelware. Für einen Generator in der Größe, wie sie Viktoria für die Unterkunft benötigt, rechnet sie mit 19.000 Euro. Dafür reichen die Mittel der ukrainischen NGO nicht aus.

Hilfe noch weiter ausbauen



Die deutsche Hilfsorganisation CARE, Partner der PNP-Weihnachtsaktion „Ein Licht im Advent“, unterstützt den Betreiber der Unterkunft „Tvoya Opora“ dort, wo die Hilfe am dringendsten benötigt wird. Aktuell zum Beispiel auch mit Medikamenten und medizinischen Geräten in Krankenhäusern.

Mit den Spenden der Leser will CARE landesweit seine Hilfe noch weiter ausbauen. CARE-Generalsekretär Karl-Otto Zentel erklärt: „Gemeinsam mit unseren Partnern helfen wir fast überall in der Ukraine. Im Osten erwarten wir mit bis zu minus 25 Grad die härtesten Winterbedingungen. Da geht es nun um warme Kleidung, Decken und Heizmöglichkeiten. Dort, wo es möglich ist, wird es auch darum gehen, zerstörte Häuser wieder notdürftig instand zu setzen und zu isolieren.“

Froh um jede Spende, die das Leben leichter macht



Auch Viktoria Fiohnostava wäre froh um jede Spende, die ihr und den Bewohnern der Unterkunft das Leben ein wenig leichter macht. Die Geschichten der Menschen, um die sie sich seit einem halben Jahr kümmert, trage sie in ihrem Herzen, sagt sie. Manchmal sei es auch für sie schwer, nicht in Tränen auszubrechen. Doch das lässt sie nur hinter verschlossenen Türen zu. „Ich will nicht, dass mich jemand weinen sieht. Ich muss stark sein.“