Ingolstadt
Wie kommt man an ein ärztliches Attest zur Befreiung von der Maskenpflicht?

Eine Spurensuche

31.07.2020 | Stand 23.09.2023, 13:14 Uhr
Eine "großzügige Befreiung von der Maskenpflicht" - darum geht es bei der Aktion. −Foto: Schmidt

Ingolstadt - Dass viele Menschen nicht einverstanden sind mit der Masken-Pflicht, überrascht nicht. Dass unter ihnen auch viele Ärzte zu finden sind, schon. Doch die Mediziner haben einen Trumpf in der Hand. Sie können ihren Patienten Atteste zur Befreiung von der Maskenpflicht ausstellen. Eine Aktion von Medizinern ruft dazu auf, diese "großzügig" zu verteilen - auch an aktuell gesunde Menschen. Dazu später mehr. Einige Unterstützer praktizieren auch in der Region.

Wo und wie kommt man ohne schwerwiegende Erkrankung an ein Befreiungs-Attest für den Mund-Nasen-Schutz von einem Arzt? Das ist die Frage, die am Anfang dieser Recherche steht. Was dabei zu Tage tritt, ist viel mehr. Es sind nicht einzelne Ärzte, die im stillen Protest unter dem Tisch ein Attest durchreichen. Sondern gezielte und offensive Aktionen von Medizinern, die dazu aufrufen, "großzügig" Atteste auszustellen - auch an Menschen, die aktuell gesund sind. Diese Aktion unterstützen unter anderem Ärzte, die hinter der Pandemie  eine Verschwörung vermuten. Auch in der Region.

Doch von Anfang an. Wer im Netz nach solchen Attesten sucht, stößt unter anderem auf die "Ärzte für Aufklärung". Sie bezeichnen sich als politisch, finanziell und konfessionell unabhängig - und kritisieren die Maßnahmen im Zuge der Corona-Pandemie offen als "überzogen".  

"Inszenierte Pandemie" 

Man braucht nicht lange zu suchen, um problematische Inhalte auf deren Seite zu finden. So kommt mehrfach Franz Rupert, laut eigener Aussage Professor für Psychologie und Psychotherapeut mit dem Schwerpunkt Trauma, zu Wort. In einem etwa 40-minütigen Video zum Thema Corona spricht er von einer „von langer Hand vorbereiteten“ Aktion und einer „inszenierten Pandemie“ zur (Zitat!) „Machtergreifung“ einer internationalen Allianz von Befürwortern einer Idee. Nämlich einer Idee eines General-Impfstoffes gegen Influenza-Viren. Im Zuge der Prognosen zu einer zweiten Corona-Welle stellt er in den Raum, es könne Pläne geben, ein weiteres Virus „pandemisch werden zu lassen“. Die Gesellschaft werde in Symptome einer Zwangsstörung getrieben und Mittel der psychologischen Kriegsführung genutzt. 

Ob die "Ärzte für Aufklärung" hinter solchen Inhalten - die immerhin auf der Seite platziert sind -  stehen, beantworten sie auf DONAUKURIER-Anfrage ebenso wenig wie alle anderen an sie gestellten Fragen. 

Dabei wendet sich die Inititive aktiv an die Öffentlichkeit: bei ihrer "Aktion der großzügigen Befreiung von der 'Maskenpflicht'". Diese entstand in Kooperation mit einer weiteren Initiative: dem Verein "Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie (MWGFD)". 

Dieser Verein stellt sich als Zusammenschluss von Menschen vor, die in medizinischen Berufen arbeiten. Zusammen fand man laut eigener Aussage „in unserer Kritik an den überzogenen Eindämmungsmaßnahmen gegen Covid-19“. Man sehe Gesundheit, Freiheit und Demokratie durch die aktuellen Entwicklungen gefährdet. Auf der Homepage spricht der Verein von der „komplett unsinnigen Maskenpflicht“ - und weist auf die "Aktion der großzügigen Befreiung von der 'Maskenpflicht'" hin. Was hat es damit auf sich?

"Keine 'echten' Corona-Toten in Deutschland"?

Zunächst handelt es sich um einen Aufruf an die ärztlichen Kollegen, gestartet laut MWGFD am 6. Juni. Darin ist die Rede davon, dass angeblich seit einiger Zeit „so gut wie keine echten COVID-19-Neuinfektionen im Bundesgebiet mehr nachgewiesen" worden seien. Steht der Verein heute noch hinter dieser Aussage, nun, da das Robert-Koch-Institut die Entwicklung der Neuinfektionen als "sehr beunruhigend" bezeichnet? Die Antwort des MWGFD an den DONAUKURIER fällt klar aus: "Ja, wir stehen zu unserem Statement.  Es gibt seit acht Wochen kaum ernsthafte COVID-19 Fälle und keine 'echten' Corona-Toten in Deutschland", teilt man mit. Nach RKI-Angaben vom Freitag meldeten die Gesundheitsämter zuletzt insgesamt 870 neue Corona-Infektionen innerhalb eines Tages. 

MWGFD hält an seinem Aufruf an die Kollegen fest. Es würden Maßnahmen aufrechterhalten, die „jeglicher wissenschaftlicher Grundlage“ entbehren, heißt es darin. Ganz besonders "belastend" und "gesundheitgefährdend" sei für viele Menschen die Maskenpflicht, insbesondere für Ältere, Menschen mit Vorerkrankung, Schwangere und Kinder. Die meisten Masken seien „völlig ineffektiv“ und es komme „sehr häufig“ zu „gravierenden körperlichen und auch psychischen Belastungen, die sehr gesundheitsgefährdend sind“. 

Wissenschaftliche Belege dafür führen die Mediziner weder in ihrem Appell noch in der Antwort an den DONAUKURIER an. Vielmehr ist die Rede von Anekdoten; „Jeder von uns kennt Schilderungen von Benommenheit, Schwindel, Müdigkeitsgefühlen, Atemnot, bis hin zum Kreislaufkollaps, die v.a. durch die vermehrte Rückatmung von CO2 verursacht werden, die selbst bei einfacheren Maskentypen schon stattfindet.“

Wahr oder falsch? " target="_blank" %>Einen Faktenchek zum Thema Rückatmen von CO2 unter der Maske finden Sie hier

Formulierung für das Befreiungs-Attest

Weiter heißt es im Aufruf: „Wir als Ärzte sind hier aufgerufen, uns im Sinne unserer Verantwortung für die Gesundheit der sich uns anvertrauenden Menschen einzusetzen.“

Doch was heißt das konkret? Man bittet die ärztlichen Kollegen dringend, sorgfältig zu prüfen, ob sie nicht auch bei ihren betroffenen Patienten in den genannten Fällen eine Befreiung von der Maske attestieren können. Eine geeignete Formulierung liefern die Initiatoren gleich mit: "Aus schwerwiegenden medizinischen Gründen ist … von der Gesichtsmaskenpflicht befreit.“ Diese Formulierung setze in der Sicht der Autoren „nicht unbedingt schon das Vorliegen einer Erkrankung voraus, sondern kann auch bedeuten, dass durch das Tragen einer solchen Maske, eine körperliche und psychische Erkrankung für den betroffenen Patienten konkret droht und durch das Befreiungs-Attest in ihrem Auftreten verhindert werden kann“. Das schließt also mit ein, aktuell gesunden Menschen ein Attest auszustellen. 

Wer macht da mit? Der MWGFD listet Stand Freitag über 12.000 Unterstützer, die man auf der Seite per Postleitzahl filtern kann. Auch in der Region sind einige zu finden. Es gibt auch eine Liste von Medizinern unter der Überschrift „Unterstützung bei Maskenbefreiungs-Attesten“ - mit dem Hinweis, dass jeder Mediziner die Gesichtspunkte für das Attest eigenverantwortlich beurteile. Unter den etwa 30 genannten Medizinern ist keiner aus der Region.

Anders verhält es sich bei den "Ärzten für Aufklärung". In einem 13-seitigen Dokument, das zwischenzeitlich mit dem Hinweis, "überarbeitet" zu werden, von der Homepage genommen wurde, sind hunderte Mediziner gelistet. Die Journalisten von Report Mainz, einem ARD-Politikmagazin, haben 40 von ihnen stichprobenartig angerufen, um nach einem Attest zu fragen. Nicht aus medizinischen Gründen, sondern, weil sie die Maskenpflicht persönlich ablehnen würden. 19 Mediziner antworteten, keiner wies die Anfrage mit dieser Ausgangslage zurück. Einige schrieben direkt, dass man bei ihnen ein solches Attest bekommen könne. Vier Mediziner auf der Unterstützer-Liste, die dem DONAUKURIER vorliegt, praktizieren in und um Ingolstadt. Zeit also, nachzufragen, wie es bei ihnen mit solchen Attesten aussieht - anonym. 

So reagieren die Mediziner aus der Region

Eine Praxis der ersten Ärztin ist nicht aufzufinden, auch wenn sie laut dem Dokument in Ingolstadt praktiziert. Die Bandansage der zweiten Medizinerin verrät, dass die Praxis im Juli geschlossen ist. Am Apparat bei der dritten Praxis ist eine freundliche Dame, die von der Aktion noch nie etwas gehört haben will. Sie will Rücksprache mit dem Arzt halten und wieder anrufen. Das wird bis zur Veröffentlichung dieses Artikels nicht passieren.

Der vierte Mediziner geht direkt selbst ans Telefon. Er räumt sofort ein, Teil von „Ärzte für Aufklärung“ zu sein - und, dass er solche Atteste grundsätzlich nicht ausstellt. Das liegt aber scheinbar nicht daran, dass er hinter der Maskenpflicht steht. Er verweist darauf, dass es laut Infektionsschutzgesetz gar kein Attest brauche, um etwa in Geschäften keinen Mund-Nasen-Schutz tragen zu müssen. Jeder müsse selbst entscheiden, ob es für ihn "zumutbar" ist, eine Maske zu tragen – oder ob man zum Beispiel unter Angst, Panik und Schwindel leidet.

Der DONAUKURIER hat dazu das Bayerische Gesundheitsministerium gefragt. Man antwortet: Die Masken-Pflicht gelte nicht für Kunden, die glaubhaft machen können, dass für sie das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung aufgrund einer Behinderung oder aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich oder unzumutbar ist. "Glaubhaftmachung bedeutet hierbei, dass mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – dies kann zum Beispiel die Vorlage eines ärztlichen Attests oder eines Schwerbehindertenausweises sein – dargelegt wird, dass eine Befreiung von der Trageverpflichtung aus medizinischen Gründen vorliegt.“

Außerdem erklärt Mediziner Nummer vier am Telefon direkt, dass Geschäftsinhaber ohnehin ihr Hausrecht in Anspruch nehmen könnten – und Besucher auch mit Attest ohne Mund-Nasen-Schutz nicht rein lassen können. „Das Attest bringt da nicht wirklich was.“

In der Tat kündigte etwa die Bäckerei Hackner gegenüber dem DONAUKURIER Mitte Juli an, .

Doch das Telefonat mit Mediziner Nummer vier, der in Ingolstadt praktiziert, ist noch nicht vorbei. Er hat noch ein paar „Tipps“ parat. Man solle sich doch im Netz informieren – zum Beispiel via Telegram. Diesen Nachrichtendienst nutzen auch viele, die Verschwörugstheorien verbreiten. Bekannt unter ihnen: Koch Attila Hildmann. 

Außerdem gebe es laut Mediziner Nummer vier Listen von Geschäften, die das mit der Maskenpflicht „lockerer sehen“. Da könne man sich ja dann überlegen, ob man solche Geschäfte unterstütze. Im nächsten Atemzug erklärt der Allgemeinmediziner noch, dass es Blanko-Vordrucke für Atteste im Internet gibt. Die könne man sich ja auch mal ansehen. Er berate auch gerne im Hinblick auf die Corona-Pandemie und „was da ablaufe“. Konkret spricht er an, dass er über den Vergleich mit der spanischen Grippe aufkläre. Das sei nämlich wohl gar keine Grippe gewesen – sondern das seien „wahrscheinlich Impftote“.

Atteste ausstellen: Was dürfen Ärzte? 

Zwangsläufig drängt sich dieser Recherche die Frage auf: Ist das alles erlaubt? Was dürfen Mediziner? Wo ist die Grenze? Ronald Weikl, Gynäkologe aus Passau und stellvertretender Vorsitzender der MWGFD, äußert sich dazu klar. Er ist kein Unbekannter, so räumte er beispielsweise Ende Juni gegenüber dem BR bereits ein, er habe schon etwa 40 Atteste ausgestellt – an Frauen, aber auch an Männer und Kinder. In einem Video wirbt er öffentlich für die "Aktion zur großzügigen Befreiung der 'Maskenpflicht'".

Er spricht darin über Porenweiten der Masken und die Größe von Aerosolen und darüber, dass die Schutzwirkung der Masken etwa so sei, „als ob man sich mit einem Maschendrahtzaun vor Mosquitos schützen wollte“. Alle Ärzte, unabhängig von der Fachrichtung, könnten solche Atteste ausstellen, erklärt Weikl in dem Video weiter – also nicht nur Hausärzte und Internisten. Es gebe nur zwei Rechtsvorschriften zu beachten. 

Der eine ist § 25 der ärztlichen Berufsordnung, der die nötige Sorgfalt regelt. Die zweite ist § 278 im Strafgesetzbuch. "Wenn ein Arzt einem Patienten eine Erkrankung attestiert, ohne ihn vorher eingehend untersucht zu haben, kann es sich dabei um das Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse handeln. Dies ist nach § 278 Strafgesetzbuch (StGB) unter Strafe gestellt", schreibt die Kassenärztliche Vereinigung (KVB) auf DONAUKURIER-Anfrage.

Arzt: "Was sollte uns denn passieren?"

Doch Weikl, der auch die Anfrage des DONAUKURIER beantwortet, scheint davon nicht eingeschüchtert, im Video sagt er: „Vor wem oder was haben diejenigen Kollegen eigentlich Angst, die keine Masken-Befreiungs-Atteste ausstellen wollen? Was sollte uns denn passieren? Wer sollte uns diskreditieren, wenn wir als Ärzte unserer ureigensten Aufgabe nachkommen, nämlich der, den uns anvertrauten Menschen dabei zu helfen, ihre Gesundheit zu halten beziehungsweise wiederzuerlangen?“ 

Zu dieser Frage wollen sich viele nicht äußern. Der Ärztliche Kreisverband Ingolstadt-Eichstätt ruft bis Freitagabend nicht zurück. Die KVB verweist auf die Landesärztekammer. Die spricht in einem kurzen Statement davon, dass es "in wenigen Ausnahmefällen eine medizinische Indikation dafür" gebe, dass ein Patient von der Maskenpflicht befreit werden muss. Die Stadt Ingolstadt verweist an das Bayerische Gesundheitsministerium. 

Deutlicher wird da Karl Lauterbach (SPD), Bundestagsabgeordneter und selbst Arzt. Nachdem Report Mainz das Thema beleuchtete, befragten sie auch den Politiker dazu. In seinen Augen würden vermengen Mediziner hier „ideologische Positionen“, etwa dass die Maßnahmen zu streng seien, mit der Berufsausübung. Das dürfe nicht passieren. Wenn Mediziner solche Atteste ausstellen, ohne ihre Patienten zu untersuchen, sei das „nichts anderes als dass man die medizinische, die ärztliche Autorität missbraucht, um ein Gesetz auszuhebeln".  Das Gesetz sei aber unbedingt notwendig. Durch das bewusste Umgehen der Maskenpflicht würden die Ärzte eine Verbreitung von Corona bereitwillig in Kauf nehmen: "Das ist eine Verantwortung, die wir nicht tragen können als Ärzte." Was sagen die Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie dazu? Sie werden gegenüber dem DONAUKURIER deutlich. "Mit welchen Daten begründet Lauterbach seine Behauptung? Aus wissenschaftlicher Sicht ist sie nicht nachvollziehbar. Das Virus ist in die Sommerpause abgetaucht und wird mit oder ohne sinnloses Maskentragen bis Herbst dort bleiben."

Sophie Schmidt