Ingolstadt/Murnau
Verstrahltes Borstenvieh

Experte warnt Jäger: „Wildschweinfleisch vor Selbstverzehr testen“ – Behörden sollen mehr informieren

23.05.2018 | Stand 02.12.2020, 16:22 Uhr
Wildschweine sind in Südbayern und auch im Raum Ingolstadt mitunter noch stark radioaktiv belastet. −Foto: Richter

Ingolstadt/Murnau (DK) Er lässt nach seiner Kritik im vergangenen Herbst nicht locker: Der Strahlenschutzexperte Helmut Rummel aus Murnau moniert, die oft hohe radioaktive Belastung von Wildschweinen in Südbayern werde noch immer nicht ausreichend kommuniziert. In der Region Ingolstadt gab es 2017 nach seinen Erhebungen wieder teils erhebliche Grenzwertüberschreitungen, aber auch – nämlich im Raum Neuburg-Schrobenhausen – einen deutlichen, wenn auch unerklärlichen Rückgang. „Immerhin geben die Landratsämter hier die Messwerte bekannt.“ Das sei nicht überall so.

Das Phänomen mit der Radioaktivität geht auf das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 zurück. Wildschweine sind Allesfresser und nehmen  Schadstoffe über ihre Nahrung im Waldboden auf; besonders Pilze  können stark mit Radiocäsium belastet sein. Für Borstenvieh liegt der  vorgegebene Grenzwert bei 600 Becquerel (Bq) pro Kilogramm Fleisch. Was an Metzgereien oder Gastbetriebe zum Verkauf kommt, muss entsprechend getestet werden.
 
Der Murnauer Helmut Rummel, früher ein Strahlenschutzbeauftrager der Bundeswehr,  sammelt seit 2013  alle Daten, die er zur radioaktiven Belastung von Wildschweinen  in Südbayern bekommen kann – eine ehrgeizige Aufgabe bei 96 Landratsämtern und kreisfreien Städten. So hat er aus dem Raum Pfaffenhofen Spitzenwerte von 5208 Bq (August 2017), 4373 Bq ( Dezember 2017) und 3734 (Februar 2018) erhalten, im Jahr zuvor waren es einmal sogar 9657 Bq gewesen. Im Kreis Eichstätt lagen die Werte 2016 in 26 Fällen über dem Zulässigen, aber nur vier Mal über 1000 Bq, mit 2200 Bq als absolute Spitze. Aichach meldete heuer Top-Werte von 6656 und 6431 Bq, und im Kreis Neuburg-Schrobenhausen hatte es 2016 zehn Messungen über der 4000er-Marke gegeben, fünf lagen jenseits der 5000, unter anderem bei 7826. „Voriges Jahr ist das aus nicht erklärlichen Ursachen sehr stark zurückgegangen,“ sagt Rummel – zum Teil bis unter die Nachweisgrenze.
 
Die Gründe dafür sind auch für Norbert Kieslich, Leiter des Veterinärwesens am Neuburger Landratsamt, nicht   definitiv zu benennen.  „Das hängt von verschiedenen Faktoren ab, vor allem, wovon die Sau sich ernährt hat – frisst sie mehr Mais, Eicheln oder Bucheckern statt Pilze, fällt die radioaktive Belastung eben geringer aus.“ Sein Haus erhält von Helmut Rummel übrigens beste Noten: „Die Neuburger machen das vorbildlich, da sind alle Zahlen auf den Online-Seiten des Landratsamtes für alle abrufbar“, lobt er. Mit den Eichstättern und Pfaffenhofenern gebe es   da ebenfalls keine  Probleme. Ingolstadt tauche deshalb nicht auf, weil die Werte dort sehr niedrig seien.
 
Rummel war, wie berichtet, voriges Jahr schon einmal an die Medien gegangen. Fleisch für den Handel werde auf Radioaktivität getestet, nicht aber jedes Stück, das Jäger selbst innerhalb der Familie oder im Verwandten- und Freundeskreis verzehren, sagte er. Allein 2015 seien nach seinen Erhebungen 11 000 Tiere nicht gemessen, aber deren Fleisch gegessen worden.
 
Den Einwand des Bayerischen Jagdverbandes (BJV), dazu zählten auch bis zu 4000 bei Wildunfällen getötete und andere nicht zur Verwertung freigegebene Wildschweine oder Totfunde, lässt der Fachmann nicht gelten: „Die habe ich bei meiner Rechnung schon  abgezogen.“
 
Wenn fünf Schweine im Revier getestet würden und unbedenklich seien, könnte das sechste dennoch hochbelastet sein, warnt der Murnauer. Ohne vorherige Messung sollte nichts auf den Tisch. „Ich bin kein Jagdgegner, wie man mir unterstellt, ich will nur vor den gesundheitlichen Folgen  warnen. Die Jäger sind eine absolute Risikogruppe. Ein jährlicher Verzehr von sechs Kilogramm   mit 3000 Bq belastetem Fleisch  entspricht dem Strahlenwert von zwölf Röntgenaufnahmen der Lunge. Ich glaube, viele sind sich dessen nicht bewusst.“ Wobei 3000 Bq noch niedrig angesetzt sind, hat Rummel doch 2017 und 2018  in Südbayern wieder Werte weit darüber erfasst, davon 32 zwischen 10 000 und 16 000 Bq.
 
Beim  Bayerischen Jagdverband war gestern wegen der Urlaubszeit niemand für ein Statement erreichbar. BJV-Präsident Jürgen Vocke  hatte zuletzt gegenüber unserer Zeitung auf ein Messnetz mit rund 130 Stationen verwiesen, das sicherstellen würde, dass nichts ungeprüft in den Handel komme. „Mit geht es hier aber um den Selbstverzehr von ungetesteten Tieren“, sagt Rummel.  „Der BJV kann gar nicht mitreden, weil er die exakten Zahlen nicht alle kennt.“

 Die liegen laut Rummel bei den Behörden und werden etwa erfasst, wenn Jäger einen Antrag auf Ausgleichszahlungen nach dem Atomgesetz für verstrahlte Tiere stellen. Aber „einige  Landratsämter hebeln das bayerische Umweltinformationsgesetz aus und behaupten ganz einfach, sie hätten diese Werte nicht“. Explizit nennt Rummel Augsburg und Kelheim. In der Lechstadt hieß es dazu, man habe ihm stets alles weitergegeben, „wir bemühen uns ja“. In Kelheim war gestern keine Stellungnahme zu erhalten. Helmut Rummel bleibt auf Linie: „Wir brauchen mehr Transparenz, kein Verharmlosen.“ Zuletzt hat er in dieser Sache an Bayerns Umweltminister Marcel Huber geschrieben. Die Antwort steht noch aus.