Nördlingen
Vom Stadt- zum Katzenwächter

Türmer ist ein beinahe ausgestorbener Beruf

20.08.2017 | Stand 02.12.2020, 17:37 Uhr

Foto: Heidi Källner

Nördlingen (DK) Türmer ist ein beinahe ausgestorbener Beruf. Im schwäbischen Nördlingen aber wird die Tradition in luftiger Höhe mit viel Leidenschaft noch immer am Leben erhalten - auch wenn sich das Aufgabenfeld seit dem Mittelalter deutlich gewandelt hat.

Derzeit legt Günter Burger eine Pause ein. Aber im September will er wieder an die Arbeit gehen. Dann wird er wieder mehrmals pro Woche die 350 Stufen zur Turmstube der St.-Georgs-Kirche im schwäbischen Nördlingen emporsteigen, um seiner Passion nachzugehen. Der 74-Jährige wacht als einer von zwei Haupttürmern über seine Heimatstadt im Landkreis Donau-Ries - ein Job, den es sonst in Europa kaum noch gibt.

Im Mittelalter haben Türmer dagegen eine zentrale Stellung in den Stadtgesellschaften eingenommen. Sie warnten die Bevölkerung nicht nur vor nahenden Feinden und Angriffen auf die Stadt. Auch die Kontrolle, ob es irgendwo in den Gassen brennt, gehörte zu den Aufgaben des Turmwächters. Schließlich war Feuer aufgrund der eng aneinanderstehenden Gebäude und der Bauweise eine der größten Gefahren in den Städten.

Von diesen ursprünglichen Türmer-Aufgaben ist heute auch in Nördlingen nicht mehr viel übrig. Komplett gestrichen wurde die historische Funktion aus der Jobbeschreibung aber nicht - ein Überbleibsel ist bis heute erhalten geblieben, wie Burger berichtet: Jeden Abend zwischen 22 Uhr und 24 Uhr schallt halbstündlich der Türmer-Ruf "So, G'sell, so!" über die Nördlinger Altstadt. "Durch das Rufen hat der Türmer ursprünglich signalisiert, dass er auf seinem Posten ist und nicht schläft", erklärt Burger.

Welche Bedeutung der Inhalt des Rufs hat, ist allerdings nicht zweifelsfrei belegt. Nach Überlieferungen soll die Frau eines Handwerkers eines Nachts, als sie einen Krug Bier für ihren Mann holte, bemerkt haben, dass sich eine Sau an einem offenen Stadttor gerieben habe, erzählt Burger. Die Wächter waren demnach vom Feind - Graf Hans von Oettingen - bestochen worden, um das Tor zu öffnen und so den Angriff auf die Stadt zu erleichtern. Den Verrätern habe die Frau daraufhin drohend "So, G'sell, so!" entgegengerufen, was so viel wie "Du böser Geselle" heißen sollte, sagt Burger. "Und weil angeblich eine Sau die Stadt gerettet hat, wurde lange Zeit auch jedes Jahr eine Saupredigt gehalten." So lautet zumindest die Erzählung. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt pflegen die Nördlinger ihre besondere Bindung zur angeblichen Rettersau bis heute intensiv: So sind etwa in der gesamten Stadt mehr als 220 individuell bemalte Schweine zu sehen.

Statt die Stadt zu bewachen, haben die Türmer heute eine ganze Reihe anderer Beschäftigungen in der Arbeitsbeschreibung stehen. Sie repräsentieren die Stadt, kassieren das Eintrittsgeld der rund 50 000 Touristen, die jedes Jahr den Daniel - wie der Turm im Volksmund genannt wird - erklimmen, und halten die Türmerstube und die Aussichtsplattform sauber.

Und die Katze füttern - das gehört seit einiger Zeit auch dazu. Denn seit mehreren Jahren gibt es mit der Katze Wendelstein, die oft waghalsig auf der Balkonbrüstung balanciert, von der es 90 Meter in die Tiefe geht, eine neue Attraktion, die schon viele Besucher auf den Turm gelockt hat. 360 Euro sind im Stadthaushalt unter der Rubrik "Taubenabwehr" für Katzenfutter und Tierarztkosten veranschlagt. "Aber jeder der Türmer bringt auch selbst noch eigenes Futter mit, und meines mag sie besonders gern", sagt Aushilfstürmer Herbert Türk lachend, der seit 2014 drei- bis viermal pro Monat einspringt.

Den Job will er nicht mehr missen, denn durch ihn hat er die Schönheit seiner Stadt wieder neu entdeckt. "Man hat Kontakt zu Menschen aus Amerika, Brasilien oder Japan", sagt Türk. Und jeder der Besucher schwärme von der Schönheit und dem Reiz Nördlingens, die man als Einheimischer gar nicht mehr richtig wahrnehme. "Dadurch entdeckt man die Stadt plötzlich ganz neu", sagt er.

Auch für Günter Burger, der seit 2008 dabei ist, ist der Türmer-Job weit mehr als eine reine Beschäftigungsmaßnahme in der Rente. Vielmehr genieße er es, mit all den Menschen ins Gespräch zu kommen. Zudem sei er durch den regelmäßigen Aufstieg immer in Bewegung. Sein persönliches Ziel hat Burger weiter fest im Blick: Mit 100 Jahren will er der Arbeit noch immer nachgehen. Denn wenn er dann noch im Dienst ist, so sagt er, habe ihm die Stadt einen Aufzug im Daniel versprochen. Bis dahin ist aber weiter Treppensteigen angesagt.