Ein Leben für den Radsport

Seit 50 Jahren hat der Augsburger Gerhard Ertl dem Sport alles untergeordnet und viele Talente entdeckt

23.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:50 Uhr
  −Foto: Roth, Privat

Augsburg - Georg Zimmermann fährt seine erste Profi-Saison in in der WorldTour.

 

Marco Brenner gilt als angehender Jan Ullrich. Beide kommen aus Augsburg. Und beide haben denselben Mentor: Gerhard Ertl. Der 70-Jährige ist seit nun 50 Jahren im Radsport engagiert - zuerst als aktiver Fahrer, nun als Talentschmied. Und das mit unvergleichbarem Einsatz.

Gerhard Ertl lacht laut auf und schüttelt mit dem Kopf, während er auf seinem Schaukelstuhl schnell nach vorne und hinten wippt. Es folgt ein langgezogenes "Ahhh" und ein "Nein, nein", mit einer abwinkenden Handbewegung. "Dafür hätte ich wahrscheinlich auch gar keine Zeit. " Dann holt er aus und erzählt - und schnell wird klar, warum in seinem Leben eine Familie keinen Platz hat. Obwohl Ertl im März seinen 71. Geburtstag feiert, arbeitet er immer noch als Bauingenieur. "Inzwischen sind es zwar nur noch 20 Stunden, aber dafür sind es zwei schöne und interessante Projekte", erzählt er. Und dann ist da noch seine große Leidenschaft: der Radsport.

Vor rund 50 Jahren begann er als aktiver Fahrer. "Mit 21 Jahren bin ich mein erstes Rennen gefahren", erinnert er sich. "Ich hatte eine normale Sporthose an und es war richtig nass an diesem Tag. Die Hose hatte keine Träger und so musste ich die Hose während des Rennens ständig hochzuziehen", erzählt Ertl und lacht. Die Ausstattung änderte sich allerdings schnell und so folgten die Aufstiege bis in die damalige A-Klasse, wo zu dieser Zeit die besten deutschen Amateurrennfahrer gegeneinander antraten. "Dort fuhr ich bis zum Seniorenbereich. " Nach dem Wechsel der Arbeitsstelle engagierte sich Ertl schließlich als sportlicher Leiter, zuerst bei der RSG Augsburg, später, im Jahr 1999, gründete er die E-Racers, die aktuell rund 50 Vereinsmitglieder zählen. Und dort ist er alles in Personalunion: Nachwuchstrainer, sportlicher Leiter, Vorstand, Kassierer, Mechaniker, Motivator, Fahrer und Ansprechpartner. Ein Leben für den Radsport eben.

Und das Pensum ist enorm: Rund 40000 bis 50000 Kilometer legt Ertl im privaten Transporter pro Jahr zurück und bringt die Nachwuchsfahrer zu den Rennen in ganz Deutschland. Jedes Wochenende ist verplant. Er nimmt sich die Zeit. Etwas, das die Nachwuchsfahrer schätzen. "Gerhard ist immer total flexibel, wenn man Lust hat zu trainieren, dann kann man ihn jederzeit anrufen", erzählt etwa der 16-jährige Thomas Gloning. Ertl unterstreicht das mit einem Beispiel: "Gestern kam ich gegen 15 Uhr nach Hause. Eine Minute war ich da, dann ruft schon der Erste an, und fragt mich, ob wir zusammen trainieren könnten. Eine halbe Stunde später saßen wir auf dem Rad. "

 

Es brauche ein regelmäßiges Angebot, damit es von den Kinder und Jugendlichen angenommen werden würde, sagt Ertl. "Man muss sich mit den jungen Sportlern beschäftigen, sie animieren und ihnen ein realistisches Ziel geben. Dann muss man natürlich auch selbst viel Zeit opfern. " Nur so hätte man überhaupt eine Chance, dass sich jemand für den Radsport interessiere. "98 Prozent der Kinder und Jugendlichen spielen Fußball - da tut man sich schwer", sagt Ertl. So lässt er nichts aus, um neuen Nachwuchs zu gewinnen, neben am Angebot an regelmäßigen Trainingsausfahrten während der Saison und dem Hallentraining im Winter. "Wenn ich jemanden sehe, der Talent hat, dann spreche ich ihn an. " Dazu kooperiert er mit zwei Schulen und bietet Mountainbikegruppen an.

Und was ist mit Druck? Gerhard Ertl winkt ab. "Der Radsport ist leistungs- und zeitintensiv. Das geht nicht, die jungen Sportler unter Druck zu setzen. Das ist mein Erfolgsrezept. " Bestätigen kann das eines der Aushängeschilder des Vereins, Georg Zimmermann: "Es ging Gerhard in erster Linie um den Spaß und dann erst um den Erfolg. Dies ist auch notwendig, wenn man junge Leute bei der Stange halten will. " Dafür stellt sich Ertl immer hinten an. "Gerhard hat immer sehr viel gegeben, aber wenig erwartet", erzählt Zimmermann.

Gerhard Ertls Augen strahlen, sobald er über seine Motivation spricht: "Ich bekomme viel zurück. Ich kann mich über die gewonnenen Titel und Meisterschaften mindestens genauso freuen wie der Sportler selbst. Das motiviert und befriedigt mich. " Und Titel haben seine Nachwuchstalente unzählige gewonnen. "Deutsche Meister habe ich ständig gehabt", erzählt Ertl. Georg Zimmermann (22), der nun vor seiner ersten Saison als WorldTour-Profi bei CCC steht, war sicherlich einer der Überflieger unter ihm. Marco Brenner (18), der aufgrund seines außergewöhnlichen Talents als kommender Jan Ullrich gehandelt wird, gehört ebenfalls dazu. Thomas Gloning dürfte nach Ertls Einschätzung im Junionenbereich in diesem Jahr einige Titel abräumen.

Und dann ist da noch Igor Gerling, der heute 30 Jahre alt ist. Wenn Ertl über ihn spricht, gerät er regelrecht ins Schwärmen. Der gebürtige Kasache stand irgendwann einmal mit einer Plastiktüte bei ihm und wollte am Hallentraining teilnehmen. "Im Frühjahr habe ich ihn gefragt, ob er Lust hätte, Rad zu fahren", erinnert sich Ertl. Gerling kam - allerdings mit einem uralten Damenrad. Aber er sei gefahren "wie ein Geisteskranker, bis er nicht mehr konnte". Aber es dauerte zweieinhalb Jahre, bis Gerling tatsächlich strukturiert trainierte. Von da an sei er der überragende Mann in Bayern gewesen. "Wenn er angetreten ist, sind andere von dessen Hinterrad weggefallen. " Seine Leistungen - unter anderem kam er bei drei Weltcup-Rennen in die Top-Ten - blieben natürlich nicht unentdeckt. Das damalige Team Gerolsteiner gab ihm einen Vertrag. "Eine knappe Woche später, rief er mich dann an und sagte: ,Gerhard, ich fahre nicht mehr. ' Keiner wusste warum, nicht einmal seine Familie", erzählt Ertl. Und bedauert: "Er war noch eine Nuance höher einzuschätzen als John Degenkolb (deutscher Top-Fahrer, Anm. d. Red. ), mit dem er damals fuhr. " Gerling sei allerdings die Ausnahme, denn die meisten blieben beim Radsport, so lange sie bei ihm seien - weil sie eben Spaß daran hätten.

Das hat Ertl an seinen Nachwuchsfahrern auch. Obwohl er es sich als aktiver Fahrer nie hätte vorstellen können, nach seiner eigenen Karriere so fest in den Radsport eingebunden zu sein. "Damals hat mich nur interessiert, wie ich gefahren bin. Aber über die Zeit bin ich reingewachsen. Der Radsport ist interessant - sonst hätte ich nicht so viel investiert", erzählt er. Vor allem natürlich Zeit. Doch auch das sei alles nur ein "bisschen Koordinationssache". Nur Familie, Beruf und Sport - das wäre dann doch etwas zu viel gewesen.

Unsere Serie "Mein Ehrenamt" erscheint im Vorfeld der im Juni startenden Ehrenamtswochen der Initiative Regionalmanagement Region Ingolstadt.

DK

Timo Schoch