Regensburg
"Leider gibt es nicht nur gute Hirten"

Kardinal Müller warnt mit Blick auf sexuellen Missbrauch durch Geistliche vor kollektiver Verdächtigung

26.11.2018 | Stand 02.12.2020, 15:09 Uhr
Kardinal Gerhard Ludwig Müller fordert strengere Regeln für angehende Priester. −Foto: Weigel/dpa

Regensburg (DK) Für Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller ist sexueller Missbrauch durch Priester "verwerflich", er fordert strengere Regeln für angehende Priester. Zugleich warnt er aber vor einer kollektiven Verdächtigung von Geistlichen.

Herr Kardinal Müller, der weltweite Missbrauchsskandal droht die katholische Kirche in ihren Grundfesten zu erschüttern. Kann der damit verbundene Imageverlust überhaupt wieder wettgemacht werden?

Kardinal Gerhard Ludwig Müller: Für die Geistlichen - Bischof, Priester, Diakone - und andere hauptamtliche Mitarbeiter, beispielsweise Lehrer in kirchlichen Schulen, Pastoralreferenten, in der Caritas Tätige, gelten die gleichen sittlichen Anforderungen wie für jeden Christen. Der Unterschied und damit das Anforderungsprofil besteht darin, dass Bischöfe und Priester darin Vorbilder sein sollen für die ihnen anvertraute Herde Gottes. Leider gibt es nicht nur gute Hirten, wie es nach dem Willen Christi sein soll, sondern auch "Mietlinge, denen an den Schafen nichts liegt", wie es im Johannes-Evangelium heißt. Selbst unter den zwölf Aposteln, die Jesus selbst erwählt hatte, gab es einen Verräter. Petrus, der Erste unter ihnen, hat ihn sogar verleugnet.

Und was sind die Konsequenzen daraus?

Müller: Es muss alles getan werden durch Prävention, dass sich kein Unwürdiger in diesen heiligen Beruf einschleicht. Wer als Priester eine Straftat begangen hat, der muss zuerst nach weltlichem Recht wie alle Staatsbürger die Konsequenzen tragen. Wenn ein Geistlicher sich eines Sexualverbrechens insbesondere gegen Heranwachsende schuldig gemacht hat, muss von Seiten der übergeordneten kirchlichen Autorität zusätzlich - und nicht anstelle eines weltlichen Gerichtsverfahrens - ein kirchenrechtlicher Prozess durchgeführt werden. Hier wird geprüft, ob überhaupt oder mit welchen Einschränkungen der Täter noch den priesterlichen Dienst versehen kann. Von diesem kirchenrechtlichen Prozess verschieden ist die Fürsorge kirchlicher Stellen für die Opfer dieser furchtbaren Taten, auch der vielen Opfer anderer Täter.

Manchmal wird von kirchlicher Seite darauf verwiesen, in anderen gesellschaftlichen Bereichen gebe es deutlich mehr Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern. Kann das nicht als Relativierung der Verbrechen von Priestern missverstanden werden?

Müller: Die Kriminalstatistik sagt objektiv, dass die große Mehrheit der Sexualdelikte gegen Heranwachsende in der Familie und in allen Bereichen, wo Jugend vorkommt, stattfindet. Falsch ist nur der Umkehrschluss, dass dann die meisten Väter und männlichen Verwandten, Lehrer, Sporttrainer mögliche oder tatsächliche Täter sind. So besonders verwerflich es ist, wenn gerade ein Priester, der ein guter Hirt sein soll, sich als Wolf entlarvt, so muss doch objektiv festgehalten werden, dass die meisten Priester sich nicht dieser Taten schuldig gemacht haben und gute und eifrige Seelsorger sind. Die voll berechtigte Empörung über die Untaten individueller Personen darf nicht in die Ungerechtigkeit einer kollektiven Beschuldigung oder Verdächtigung umschlagen.

Wegen der Missbrauchsaffäre wurde gefordert, die Kirche müsse ihre Sexuallehre und den Pflichtzölibat überdenken.

Müller: Diese beiden Forderungen enthalten die gleiche Unterstellung: dass erstens die Sexualethik, die Kindesmissbrauch eine Sünde nennt, und dass zweitens die freiwillig angenommene evangelische Lebensform Jesu, zu der niemand verpflichtet werden kann, von sich aus zu Sexualverbrechen disponieren. Überdies liegt dem ein primitives Verständnis der menschlichen Sexualität zugrunde, die auf eine animalische Triebbefriedigung reduziert wird.

Die Bischöfe in den von Missbrauch betroffenen Ländern wirken stark verunsichert. Kann daran die geplante Synode zum Thema in Rom etwas ändern?

Müller: Manche Bischöfe verunsichern die Gläubigen, weil sie in ihren Stellungnahmen nur dem Mainstream folgen. Wir müssen wieder mehr geistlich und theologisch werden und weniger politisch und zeitgeistig.

Sie sehen hier offenbar Defizite?

Müller: Es fehlt eine Analyse der Situation mit theologischen Kategorien. Warum gibt es in der Kirche, die Christus gestiftet und geheiligt hat, dennoch Sünder und sogar manchmal Verbrecher? Die Kirche ist nicht glaubwürdig durch die Summe ihrer moralisch einwandfreien Mitglieder, sondern durch die frei uns geschenkte Gnade Gottes. Eine verweltlichte Kirche kann der Welt keine Hoffnung geben.

Papst Franziskus ist selbst in den Verdacht geraten, in seiner Zeit in Argentinien und auch danach nicht immer die nötigen Schritte eingeleitet zu haben, wenn es um die Kenntnis von Missbrauch ging. Wie handlungsfähig ist der Papst in dieser Frage?

Müller: Es gibt Tendenzen von entgegengesetzten ideologischen Gruppen, Papst Franziskus für ihre Interessen zu vereinnahmen oder um jeden Preis in Misskredit zu bringen. Was tatsächlich in Buenos Aires getan oder unterlassen worden ist, entzieht sich meiner Beurteilung. Der Papst hat eine klare Haltung. Viel kommt darauf an, dass die Bischöfe vertrauensvoll mit der Glaubenskongregation zusammenarbeiten, und dass die Kongregation in ihrer Arbeit nicht von interessenbedingten Interventionen "direkt" beim Papst behindert wird.

Vor wenigen Tagen haben Sie einem Online-Portal gesagt, den Ausschlag für die Missbrauchskrise habe die Tatsache gegeben, dass in den eigenen Reihen der Kirche praktizierende Homosexuelle seien, und dabei auf eine Schwulen-Lobby im Vatikan verwiesen. Wie meinen Sie das?

Müller: Es ist Tatsache, dass etwas über 80 Prozent der Opfer des Missbrauchs Jugendliche männlichen Geschlechts nach der Pubertät sind, so dass auf die Art der sexuellen Unordnung bei diesen Klerikern zu schließen ist. Daraus folgt nicht, dass jeder, der homosexuell aktiv ist, sich möglicherweise an unter 18-jährigen Jungen vergreifen muss, oder dass man deswegen auf einen hohen Anteil homosexuell empfindender Priester schließen könnte. Der Fehlschluss besteht immer in der Hochrechnung der Taten von Individuen zu der Berufs- oder Menschengruppe, der sie angehören. Auch ist es nicht akzeptabel, dass der Missbrauch von jungen Männern über 18 Jahren durch Kleriker im Hinblick auf die weltliche Gesetzgebung in der Kirche relativiert wird.

Welche Rolle spielt die Homosexuellen-Lobby?

Müller: Der Papst selbst hat einmal von der Existenz einer solchen Lobby gesprochen, einer Gruppe also, deren Angehörige sich wechselseitig beschützen und fördern. Ich kann das nicht überprüfen, da solche Personen sich mir nicht als solche zu erkennen geben. Aber wenn es sie gibt, muss ihr Treiben strikt unterbunden werden, weil sie immensen Schaden anrichten. Im Kirchenrecht muss auch wieder die homosexuelle Aktivität von Priestern als schwerer Verstoß gegen das priesterliche Ethos festgestellt und sanktioniert werden.

Das Interview führte Karl Birkenseer.