Ingolstadt
Nicht nur eine Profilneurose

Warum kommen die Sozialdemokraten beim Volk nicht mehr an?

15.10.2018 | Stand 02.12.2020, 15:27 Uhr
Ab auf den Müll! Die Wahlplakate in Bayern haben seit Sonntag ausgedient, das schlechte Abschneiden der Volksparteien wie CSU und SPD ist als Denkzettel zu verstehen. −Foto: Hildenbrand/dpa

Wofür steht die SPD? Warum kommen die Sozialdemokraten beim Volk nicht mehr an? Politiker aus Ingolstadt und Umgebung nennen nach dem Debakel vom Sonntag ihre Gründe für den steten Abstieg der einst stolzen Traditionspartei.

Ingolstadt/München (DK) Ihre Wurzeln reichen sehr weit zurück, bis ins Jahr 1863. Heute sitzt die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) als einzige Partei in allen Landesparlamenten und auch in der Bundesregierung - noch, möchte man nach dem jüngsten Urnengang sagen. Auf gerade einmal 9,7 Prozent Gesamtstimmenanteil belief sich das Ergebnis bei den bayerischen Landtagswahlen am Sonntag, fast elf Prozent weniger als vor fünf Jahren. Münchens Alt-OB Christian Ude (SPD) forderte noch am Wahlabend, "alles auf den Prüfstand" zu stellen. Dem Vernehmen nach plant er eine kabarettistische Aufarbeitung des Wahldebakels. Nicht um sich lustig zu machen, sondern um den Genossen den Spiegel vorzuhalten. Galgenhumor nach einem Desaster für die Partei.

Schon lange zeigen die Zahlen für die Sozialdemokraten fast nur noch nach unten. 1966 hatten sie für ihre Verhältnisse sagenhafte 35,8 Prozent der Stimmen geholt, selbst 1994 waren es noch satte 30 Prozent. Wenn es so weitergeht, ist die einst so stolze Partei bald Geschichte, so dramatisch wirkt dieser Absturz. In Ingolstadt waren es zuletzt gar nur 9,07 Prozent. Dabei galt die SPD in der Schanz und Umgebung einmal als Volkspartei, als politische Heimat von Audi-Arbeitern und Eisenbahnern. Doch davon ist kaum etwas übriggeblieben. Wie konnte es soweit kommen?

Heute stellt die Partei nur noch die fünftstärkste Kraft im Freistaat. Auf der einen Seite zieht die AfD an den Sozialdemokraten vorbei, auf der anderen überholen die Grünen sie in einem Eiltempo, dass einem schwindlig werden könnte. "Wir kriegen jetzt die Klatsche für die Politik im Bund, da kannst du hier an der Basis noch so bürgerfreundlich arbeiten", resigniert Bürgermeisterin Andrea Mickel (SPD) aus Gaimersheim im Landkreis Eichstätt. "Früher hat es auch noch weniger Parteien gegeben, die Schwarzen, die Sozialdemokraten und die FDP, das war's fast schon. Inzwischen verteilt sich das auf viel mehr."

Doch der Abstieg zeichnet sich schon länger ab. "Der Verfall der SPD hat eigentlich bereits Mitte oder Ende der 80er-Jahre begonnen", sagt der Ingolstädter Franz Götz. Langsam zunächst, aber stetig. "Damals sind viele aus dem linken Flügel der Partei ins Maximilianeum gekommen und haben langgediente Männer wie Hans-Jochen Vogel oder Georg Kronawitter vergrault." Götz weiß, wovon er spricht, schließlich war er von 1978 bis 2003 selbst als SPD-Abgeordneter im bayerischen Landtag gesessen.

"Ein Linksruck, wie damals eingeläutet, bringt dir in Bayern aber gar nichts. Zugleich haben die maßgeblichen Leute immer mehr die Belange der Arbeitnehmer, der Gewerbetreibenden und des Mittelstands aus den Augen verloren. Man hat sich nicht mehr ausreichend für die Belange der Kleinen interessiert. Die SPD hat sich außerdem mit der Zeit immer mehr von den Gewerkschaften entfernt. Heute ist der Abstand viel zu groß, als dass dieses Klientel noch erreicht würde", findet Götz. Es fehle gleichermaßen an einem glaubwürdigen politischen Programm als auch an guter Personalpolitik. "Fragen Sie doch mal, wer sich eine Andrea Nahles als Bundeskanzlerin oder Natascha Kohnen als Ministerpräsidentin vorstellen kann. Da wird es kaum einen geben."

Doch verlorenes Vertrauen wiederzugewinnen, bedeutet einen steinigen Weg. Wo sieht er, Götz, die SPD in fünf Jahren? "Da wird noch nicht viel passiert sein, fürchte ich. Eine Erneuerung dauert viel länger, das kann eine ganze Generation bedeuten. Im Moment bekommt die SPD doch kaum noch Nachwuchs, weil mit ihr keine politische Karriere zu machen ist." Harte Worte eines Realisten, trübe Aussichten für die Partei.

Peter Schnell (CSU) war es seinerzeit, der 1972 den Wechsel an der Ingolstädter Rathausspitze von Rot nach Schwarz eingeläutet, nachdem sein SPD-Vorgänger Otto Stinglwagner nicht mehr angetreten war und er gegen den Ersatzkandidaten die OB-Wahl gewonnen hatte. Eine echte Sensation damals, wie der junge Jurist den OB-Sessel eroberte, 30 Jahre lang sollte er fortan die Geschicke der Schanz leiten. Noch heute kann Schnell seinen Erfolg kaum fassen: "Damals haben die Eisenbahner, die Audi-Beschäftigten oder die Arbeiter in der alten Gießerei fast alle SPD gewählt, das war einfach so. Die alten Sozialdemokraten sind aber noch alle gestandene Leute gewesen, unverkrampft und nicht gestelzt. Dort hat der kleine Mann traditionell seine politische Heimat gefunden."

Und heute? "Natürlich hat sich die Gesellschaft geändert, der Arbeiter ist selbstbewusster geworden und sucht sich aus, wer ihn vertreten soll", sagt Schnell. "Aber es ist auch die humane Dimension weitgehend verloren gegangen, die SPD vermittelt ihren Wählern immer weniger das Gefühl der Geborgenheit und der Vertrautheit. Das gilt inzwischen aber genauso für meine Partei", hebt der verdiente CSU-Mann aus Ingolstadt mahnend den Finger. Der Mensch müsse eben wieder mehr zählen, ebenso der gegenseitige Respekt voreinander, sagt Peter Schnell. "Ich sehe das Wahlergebnis vom Sonntag deshalb nicht nur negativ. Es bedeutet ein Signal des Aufbruchs an alle: Die Politik muss sich wieder mehr hin zu den Menschen wenden und sich weniger mit sich selbst befassen. Dann hat das schlechte Abschneiden doch was Gutes, auch für uns als Christsoziale."

Einer, der von 1998 bis 2003 für die SPD im bayerischen Landtag saß, ist der Ingolstädter Achim Werner. Der Wahlsonntag oder vielmehr der Ausgang für seine Partei lässt ihn ratlos zurück. "Warum wenden die Menschen sich von uns ab? Warum haben sie Angst, obwohl es ihnen gut geht? Wir müssen die Spaltung der Gesellschaft stoppen", fordert er , "und unser Profil als Partei der kleinen Leute wieder schärfen. Da ist viel verloren gegangen. Traditionelle Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sollten wieder mehr zählen." Das Grundübel des Abstiegs sieht Werner vor allem in der Bundespolitik.

Wobei damit mitunter sogar Punkte zu holen wären: "Wir haben in Berlin eigentlich gute Themen umgesetzt, zum Beispiel den Mindestlohn oder den besseren Zugang zur Rente", argumentiert Jörg Schlagbauer, SPD-Stadtrat in Ingolstadt und IG-Metall-Chef bei Audi. "Trotzdem rechnet uns das keiner positiv an. Wir brauchen dringend einen personellen Neuanfang im Bund und müssen wieder in die Opposition, anders kommen wir nicht voran", glaubt der 41-Jährige. "Das wird nach diesem Sonntag immer deutlicher." Oder im Klartext: Weg mit Andrea Nahles als Bundesvorsitzender, zurück auf "Los" und ein Neuanfang. Die Zeit wäre reif.