Ingolstadt
Fest gemauert in der Erden

Ein verbunkerter Schutzraum unter dem Ingolstädter Hauptbahnhof weckt Erinnerungen an die Schreckensszenarien des Kalten Krieges. Nach einem Atombombenangriff sollte von hier aus der Bahnbetrieb in der Region aufrechterhalten werden. Der Bau wird noch immer regelmäßig gewartet.

16.09.2016 | Stand 02.12.2020, 19:18 Uhr

−Foto: Eberl

Ingolstadt (DK) Ein verbunkerter Schutzraum unter dem Ingolstädter Hauptbahnhof weckt Erinnerungen an die Schreckensszenarien des Kalten Krieges. Nach einem Atombombenangriff sollte von hier aus der Bahnbetrieb in der Region aufrechterhalten werden. Der Bau wird noch immer regelmäßig gewartet.

"Schutzraum" steht auf der blauen Metalltür in einer eisenversetzten Betonwand irgendwo unter dem Ingolstädter Hauptbahnhof. Ihr genauer Standort soll nicht verraten werden. Geöffnet wird sie selten. Zweimal im Jahr steigt jemand in die Gänge hinter der Tür hinunter, um nach dem Rechten zu sehen und die Lüftung einzuschalten. In den verwaisten Räumen und leeren Fluren soll sich kein Schimmel breitmachen.

Über vier Jahre, von 1972 bis 1976, wurde an der unterirdischen Anlage gebaut. Möglichst unauffällig, denn hier rüstete sich die Deutsche Bundesbahn für die militärische Katastrophe. Nach einem Atomschlag sollte aus der verbunkerten Befehlsstelle heraus der Bahnbetrieb in der Region aufrechterhalten werden. "Vermutlich ging es dabei vor allem um Militärtransporte", sagt ein Bahnmitarbeiter, der sich seit 2003 um mehrere solcher Anlagen in Süddeutschland kümmert. Wie viele es sind, soll geheim bleiben. Auch seinen Namen will er lieber nicht in der Zeitung lesen. Ältere Kollegen haben ihm aus der Zeit berichtet, da die Schreckensszenarien des Kalten Krieges als reale Bedrohung galten. Nach der Explosion einer Atombombe auf Deutschland sollten 47 Bahnmitarbeiter in der Befehlszentrale unter dem Hauptbahnhof leben und arbeiten. In der Eingangsschleuse hängen noch heute griffbereit zwei Spaten, eine Schaufel sowie eine Spitzhacke und anderes Gerät. Damit könnte ein verschütteter Eingang freigelegt werden. Auch eine Feuerpatsche ist dabei. Daneben ragt ein Wasserhahn mit Brause aus der Wand: die "Entgiftungsdusche". Hier sollten sich die Bahner den radioaktiv kontaminierten Staub vom Körper waschen, bevor sie die Schleusentür hinter sich schlossen. Für bis zu zwei Wochen. Das sollte reichen, denn nach einem der gängigen militärischen Planspiele hätten die Angreifer Deutschland nicht für Jahrhunderte radioaktiv verseucht, sondern die nukleare Belastung auf einem niedrigen Niveau gehalten. So konnte der Feind vermeiden, die eigenen Truppen bei einem Einmarsch massiv zu gefährden. So malten sich die Westmächte zumindest die Denkweise der Sowjets aus.

Im fahlen Licht der Neonröhren in der unterirdischen Befehlsstelle gewinnen solche Schilderungen eine beklemmende Eindringlichkeit. Sie begleitet die seltenen Besucher auf dem Weg durch die pastellfarbenen Gänge. Psychologen haben die Farben wegen ihrer beruhigenden Wirkung ausgesucht. Sie erinnern an Krankenhäuser. Neben jeder Tür hängt ein Schild, auf dem eine Nummer und die Funktion des Raums stehen. Eine Durchreiche erlaubt den Blick in die "Küche". Zwei elektrische Kochplatten stehen auf einer Spüle. Der "Aufenthaltsraum" ist bis auf einen Tisch und ein paar Stühlen leer.

Schnell geht die Orientierung verloren. Kein Fenster gibt Aufschluss darüber, ob über der Betondecke noch das Bahnhofsgebäude verläuft. Oder doch schon die Straße davor? Um eine weitere Ecke und ein paar Stufen hinunter geht es entlang einiger Spinde in die "Warnstelle". Auf dem Schreibtisch steht der so genannte Allfernsprecher - ein Telefon mit Wählscheibe, zahlreichen Tasten und einem Mikrofon. Von hier aus hätte die Besatzung der Befehlsstelle im Ernstfall versucht, Kontakt mit den Stellwerken draußen aufzunehmen, um Anweisungen zu geben. An der Wand hängen Landkarten. "Schadenslage" steht über einem Plan der Gleisanlagen zwischen Treuchtlingen, Augsburg und Ingolstadt. Jede Weiche ist verzeichnet, jedes Gleis und jede Brücke. An die Karte ist ein Zettel geheftet. Auf ihm hat jemand vor Jahrzehnten offenbar mit einer Schreibmaschine die Symbole aufgelistet, mit denen die Bahner im Bunker die betreffenden Stellen auf der Karte markieren sollten: "befahrbar", "beschädigt, aber noch befahrbar" und "zerstört".

Im engen "Ruheraum für Herren" hängen zwölf Pritschen an Ketten in einer schmucklosen Metallrohrkonstruktion. Immer drei übereinander. Im Schichtbetrieb hätten sich die Männer hier beim Schlafen abgewechselt. In einem separaten Raum sind auch zwei Notbetten für Frauen vorgesehen. Die Schlafstätten können auch als Sitzbänke dienen. Kopfstützen lassen vermuten, dass sich die Bunkerbesatzung bei Luftangriffen hierher zurückgezogen hätte. Fluoreszierende Bänder an den Wänden weisen bei Dunkelheit oder dichtem Rauch den Weg zu den Ausgängen. Oder in den Raum mit der großen Luftfilteranlage. Die lässt sich nach einem Stromausfall auch mit einer Handkurbel betreiben. Noch immer hängt der Griff an der Metallkonstruktion aus den 1970er-Jahren. Auch die verplombten Aktivkohlefilter, die bei Bedarf in das Rohrsystem eingebaut werden müssen, stehen parat. Das zuständige Bundesverkehrsministerium lässt sie regelmäßig warten, alle 48 Monate werden sie kontrolliert. "Die ganze Anlage wären im Prinzip jederzeit einsatzbereit", sagt der Bahnmitarbeiter. Dann fällt die blaue Schleusentür ins Schloss. Bis zum nächsten Routinegang in ein paar Monaten.