München
"Das hat schon gefängnisähnlichen Charakter"

28.02.2018 | Stand 02.12.2020, 16:45 Uhr

München (DK) Der Jurist Alexander Drewes vom VdK München spricht im Interview über die Zumutbarkeit, gegen seinen Willen in einem Heim leben zu müssen.

Herr Drewes, das Beispiel von Herrn Glosser zeigt, wie schwierig es ist, das verbriefte Recht auf Selbstbestimmung und gerechte Teilhabe einzufordern. Ist das nur ein Einzelfall oder geht es anderen Menschen mit Behinderungen ähnlich?

Alexander Drewes: Das ist durchaus kein Einzelfall. Es liegt im Wesentlichen daran, dass sich an der Finanzierungsstruktur einer 24-Stunden-Assistenz auch im neuen Teilhabegesetz überhaupt nichts geändert hat. Abgesehen von den Pflegeleistungen kann so eine Assistenz nur aus steuerfinanzierter Sozialhilfe bezahlt werden. Das bedeutet, dass der Bezirk Interesse hat, die Kosten zu minimieren. Sogar jetzt, wo wegen der neuen Gesetzeslage gerade viel im Fluss ist, tendiert man stark dazu, selbst bisher gewährte Leistungen deutlich einzuschränken - so wie bei Herrn Glosser.

 

Die Regel lautet doch aber: ambulante Versorgung vor stationärer Unterbringung. Dennoch muss Herr Glosser statt in seiner Wohnung in einem Seniorenheim leben. Wie kann das sein?

Drewes: Das Prinzip klingt erst einmal gut, ist aber an einen Kostenvorbehalt gebunden: Eine ambulante Maßnahme greift nur dann, wenn sie keine wesentlich höheren Kosten verursacht als eine stationäre. Im vorliegenden Fall scheint man zu dem Ergebnis gekommen zu sein, dass die stationäre Maßnahme zumutbar ist. Doch aus meiner Sicht scheitert ein solches Vorhaben schon allein an der schieren Zumutbarkeit, weil man einem Menschen, der in seiner häuslichen Umgebung leben will, eine Heimsituation eigentlich gar nicht zumuten kann.

 

Können Menschen Leistungen einfordern - koste es, was es wolle? Wo gelangt der Sozialstaat an seine Grenzen?

Drewes: Es war noch nie so, dass es Menschen mit Behinderungen ermöglicht worden ist, in Saus und Braus auf Kosten des Sozialstaats zu leben - das ist eine Schimäre. Eine 24-Stunden-Betreuung wirft in der Tat beträchtliche Kosten auf, denn natürlich haben auch Assistenzkräfte einen Anspruch auf eine völlig normale Entlohnung. Doch so einer 24-Stunden-Betreuung bedarf nur eine sehr kleine Klientel, sodass diese Leistung auch aus finanzieller Sicht durchaus darstellbar wäre, wenn man es denn wollte.

 

Um welche Beträge geht es dabei ungefähr?

Drewes: Je nach Umfang der Pflege fängt das Ganze bei rund 6000 bis 8000 Euro an und endet im Normalfall bei 25 000 Euro pro Monat.

 

Herr Glosser sagt, in Ingolstadt bekäme er keine Assistenten. Wie sieht es in Bayern aus mit dem Angebot?

Drewes: Mir sind die Verhältnisse in Ingolstadt nicht so vertraut. Generell gilt aber, dass bis auf die Großstädte - damit meine ich München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg, Ingolstadt und mit Einschränkungen Regensburg - die Angebote in der Tat so ausgestaltet sind, dass eine selbstbestimmte Teilhabe von Menschen in Heimeinrichtungen eigentlich nicht gewährleistet ist. Das liegt teilweise an erheblich veralteten Strukturen. Aber auch daran, dass solche Einrichtungen mit Pauschalsätzen finanziert werden. Im Grunde kann jemand wie Herr Glosser in einer derartigen Einrichtung nicht einmal gut genug gepflegt und versorgt werden. Also ist das für ihn eine deutliche Verschlechterung gegenüber der früheren häuslichen Situation.

 

Was raten Sie Menschen mit Behinderungen, die Hilfe brauchen?

Drewes: Ich empfehle den Betroffenen, soweit und solange es möglich ist, die Ärmel hochzukrempeln und sich zur Wehr zu setzen - und sich jede denkbare Unterstützung zu suchen, die dienlich ist. Denn einen derartiger Zustand, in dem sich beispielsweise Herr Glosser zurzeit befindet, würde kein Mensch ohne Beeinträchtigung akzeptieren - außer, er wäre zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme verurteilt. Denn als nichts anderes stellt sich so eine Heimeinweisung im Grunde dar: Man ist in seinem gesamten Tages- und Lebensablauf voll durchreglementiert, und das hat schon gefängnisähnlichen Charakter, auch wenn man tagsüber natürlich jederzeit raus kann.

 

Was versprechen sich Menschen mit Behinderungen vom neuen Teilhabegesetz?

Drewes: Man muss leider konstatieren, dass es unter dem Motto läuft: viel Rauch um nichts. Immerhin: Beim Teilhabeplan, der jetzt bei komplexeren Leistungen aufgestellt wird, ist der behinderte Mensch in jeder Phase des Verfahrens mit zu berücksichtigen. Das war bisher ein Kann, nun ist es ein Muss.

 

Das Gespräche führte Suzanne Schattenhofer

 

 

ZUR PERSON

Alexander Drewes ist Geschäftsführer der VdK-Kreisgeschäftsstelle München. Der Jurist ist Fachmann für den Bereich Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und selber taubblind. Um arbeiten zu können, braucht er stundenweise eine Assistenz.