Unschuldig verurteilt?
"Es handelt sich um ein Fehlurteil"

01.10.2019 | Stand 02.12.2020, 12:56 Uhr
Sie ist fest von der Unschuld ihres Mandanten überzeugt: Anwältin Regina Rick hat einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens eingereicht. −Foto: privat

Die Münchner Anwältin Regina Rick dringt in einem spektakulären Fall auf ein neues Verfahren: Manfred Genditzki sitzt seit zehn Jahren als verurteilter Mörder in Haft. Doch an seiner Schuld gibt es erhebliche Zweifel.

Neulich hat der Sohn von Manfred Genditzki seinen Vater in der Justizvollzugsanstalt Landsberg besucht. Auf dem Weg dorthin fragte seine Tante, ob sie dem 13-Jährigen einen Wunsch erfüllen könne - so erzählt es Genditzkis Schwester in der MDR-Reihe "Die Spur der Täter". Die Frau dachte wohl an ein Spielzeug oder einen Ausflug, doch ihr Neffe habe geantwortet: "Ich wünsche mir, dass mein Papa bald wieder nach Hause kommt."

Drei Jahre alt war der Bub, als sein Vater 2009 verhaftet wurde. Seither sitzt Manfred Genditzki im Gefängnis. Er soll eine ältere Frau im Streit geschlagen und danach ertränkt haben - "Badewannen-Mord von Rottach-Egern" nannte das der Boulevard. Doch hat Genditzki die 87-jährige Lieselotte Kortüm wirklich getötet? Davon sind zwei Kammern des Landgerichts München überzeugt gewesen, die ihn beide wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilten. Genditzki selbst bestreitet die Tat bis heute, und auch viele Beobachter glauben an seine Unschuld. Nun hat seine Anwältin Regina Rick einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens eingereicht - 150 Seiten stark, darin neue Gutachten und der Verweis auf eine bislang nicht gehörte Zeugin.


Der Antrag liege zurzeit bei der Staatsanwaltschaft München I zur Stellungnahme, teilt eine Sprecherin des Landgerichts München mit. Diese werde voraussichtlich in drei bis fünf Wochen vorliegen. Danach sei es an der 1. Strafkammer des Landgerichts München I, den Wiederaufnahmeantrag zu prüfen, so die Sprecherin. Wie lange dies dauern wird, sei "derzeit nicht absehbar".

Rückblick: Am Abend des 28. Oktober 2008 wird Lieselotte Kortüm tot in ihrer Badewanne gefunden. Zunächst gehen die Ermittler davon aus, dass die Witwe gestürzt ist. Doch bei der Obduktion entdeckt man zwei Blutergüsse unter der Kopfhaut; überdies berichtet eine Pflegedienst-Mitarbeiterin, dass die 87-Jährige nie gebadet habe. Nach weiteren Ermittlungen kommt die Kriminalpolizei Miesbach zu dem Schluss, dass ein Gewaltverbrechen vorliegt. Als möglichen Täter nimmt sie Manfred Genditzki ins Visier, seit 1996 Hausmeister der Wohnanlage.

Genditzki hatte sich seit dem Tod von Kortüms Ehemanns um die Frau gekümmert. Er machte ihr Frühstück, ging für sie einkaufen, erledigte Bankgeschäfte. "Das war ein richtig freundschaftliches Verhältnis", sagt seine Schwester. Genditzki habe die alte Dame regelmäßig mit seiner zweiten Ehefrau und dem Sohn zum Kaffeetrinken besucht - "Oma Bomme" nannte der Bub die 87-Jährige, die ihm stets etwas Schokolade zusteckte.

Am 28. Oktober 2008 wird Kortüm nach einem Krankenhausaufenthalt entlassen. Genditzki bringt sie nach Hause, wo sie Kaffee trinken und Einkäufe abrechnen, ehe er sich verabschiedet - so schildert es der Hausmeister. Aus dem Auto ruft er um 15.09 Uhr den Pflegedienst an; um 15.30 Uhr kauft er im Supermarkt ein, wie ein Kassenbon belegt. Für die Zeit danach hat Genditzki ein Alibi. Zuvor aber habe er Kortüm erst bewusstlos geschlagen und dann getötet, nachdem sie entdeckt hatte, dass er 8000 Euro aus ihrer Geldkassette gestohlen hatte. So schildert es der Staatsanwalt in der Anklage, als im November 2009 der Prozess vor dem Landgericht München II beginnt.

In der Verhandlung kann Genditzki jedoch beweisen, dass er kein Geld genommen hat. Nun rechnet alles mit einem Freispruch, doch im Plädoyer schwenkt der Staatsanwalt auf ein neues Tatmotiv um: Es habe Streit gegeben, da der Hausmeister am Nachmittag seine Mutter und nicht Kortüm besuchen wollte. Diese habe ihm Vorwürfe gemacht, er soll sie daraufhin aus Wut mit einem Gegenstand auf den Kopf geschlagen haben. Um die Tat zu vertuschen, habe Genditzki die Frau anschließend in der Badewanne ertränkt. "Dieser Streit ist eine Erfindung der Justiz", ist seine Anwältin Regina Rick überzeugt. "Dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte."

Das Gericht jedoch folgt der Staatsanwaltschaft und verurteilt den Angeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Haft - zur Überraschung vieler Prozessbeobachter. Diese Entscheidung hat nicht lange Bestand: Im Januar 2011 hebt der Bundesgerichtshof (BHG) das Urteil wegen eines Verfahrensfehlers auf. In der Folge beginnt ein neuer Prozess vor einer anderen Kammer des Landgerichts - der Ausgang aber ist der gleiche: 2012 wird Genditzki erneut zu lebenslanger Haft verurteilt, und diesmal hat die Entscheidung auch vor dem BGH Bestand.

"Die Kammer ist davon überzeugt, dass ein Unfallgeschehen, das heißt ein Sturz in die Badewanne, ausgeschlossen ist und ein Tötungsdelikt vorliegt", heißt es in der Urteilsbegründung. Zudem habe Kortüm keinen Anlass gehabt, die Badewanne zu nutzen. Im Weiteren verweist das Gericht auf das "auffällige Verhalten des Angeklagten nach der Tat". So habe er den Hausschlüssel außen in der Wohnungstür stecken lassen, gegenüber der Polizei unaufgefordert den Kassenbon vorgelegt und seiner Ehefrau nichts vom Tod der Witwe erzählt.

Seit gut zehn Jahren sitzt Genditzki hinter Gittern, doch die Zweifel an seiner Schuld nehmen nicht ab - im Gegenteil. "Ich bin überzeugt davon, dass es sich um ein Fehlurteil handelt", sagt Regina Rick, die in Pfaffenhofen lebt und eine Kanzlei in München hat. Seit 2013 arbeitet sie an dem Fall; unzählige Stunden und Tage hat die 50-Jährige unentgeltlich geopfert. "Für meine Kanzlei ist das eine erhebliche Belastung. Hätte ich von Anfang an gewusst, wie lange ich mit diesem Fall beschäftigt sein würde, hätte ich das Mandat vielleicht gar nicht übernommen", sagt Rick, die schon einmal Rechtsgeschichte mitgeschrieben hat. 2010 verteidigte sie eine Tochter des Neuburger Landwirts Rudi Rupp, der 2001 spurlos verschwunden war. Vier Jahre später verurteilte das Landgericht Ingolstadt die Familie des Bauern, weil sie ihn erschlagen, zerstückelt und den Hofhunden zum Fraß vorgeworfen habe. Doch dann zog die Polizei 2009 den Mercedes von Rupp aus der Donau; auf dem Fahrersitz lag seine Leiche - unzerstückelt. Und dennoch lehnte das Landgericht Landshut eine Wiederaufnahme des Verfahrens ab. Erst nachdem das Oberlandesgericht München diese Entscheidung kassiert hatte, kam es zu einem neuen Prozess. Und zum Freispruch.

Im Fall Genditzki habe sie zunächst die Akten gewälzt, "zwei Umzugskartons voll", sagt Regina Rick. Fieberhaft suchte sie vor allem nach einem Foto der Armbanduhr, die Kortüm bei ihrem Tod getragen hatte. Sie hätte Aufschluss über den Todeszeitpunkt geben können. Doch nicht nur las keiner der Ermittler die Uhrzeit ab, sondern die Armbanduhr war auch auf mysteriöse Weise verschwunden.

Nachdem sie weder die Uhr noch ein Foto von ihr hatte finden können, stieg Regina Rick tiefer in den Fall ein. Mithilfe von Spenden, die eine Bekannte sammelte, gab sie mehrere Gutachten in Auftrag. Diese würden "alle wesentlichen Feststellungen des Urteils grundlegend erschüttern", sagt Rick. So hätten Forscher der Universität Stuttgart anhand einer Computersimulation gezeigt, dass die Auffindeposition der Witwe sehr wohl Folge eines Sturzes gewesen sein könnte. Auch die Blutergüsse würden zu diesem Szenario passen. Zudem gebe es drei Gutachten, so Rick, die anhand der Körpertemperatur der Leiche und der Temperatur des Badewannenwassers von einem Todeszeitpunkt deutlich nach 15.27 Uhr ausgingen. Zu einer Zeit also, in der Genditzki nicht mehr in der Wohnung war.

Und dann meldete sich auch noch eine neue Zeugin bei Regina Rick - eine langjährige Bekannte Kortüms. Sie habe berichtet, dass die Verstorbene ihre Wäsche stets eingeweicht habe, vor allem in der Badewanne. Und genau das, glaubt die Anwältin, habe die alte Dame auch vor ihrem Tod getan. Schließlich hatte ihr das Krankenhaus, wo sie wegen einer Darmerkrankung behandelt wurde, eine Tüte mit verkoteter Wäsche mitgegeben.

Mit der neuen Zeugin sowie den Gutachten will Regina Rick eine Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. Dabei weiß sie nur zu gut, wie hoch die Hürden hierfür sind - und wie selten Strafverfahren neu aufgerollt werden. Derweil könnte der seit zehn Jahren inhaftierte Genditzki seine Chancen auf eine vorzeitige Entlassung verbessern, wenn er ein Geständnis ablegen würde. Doch das werde er nicht tun, versichert seine Anwältin. "Er sagt immer: Und wenn die mich morgen rauslassen - ich gebe nicht etwas zu, das ich nicht getan habe."

Dabei gehe es Genditzki nicht zuletzt um seine Familie; neben dem Sohn hat er eine jüngere Tochter, die ihn nur von Besuchen im Gefängnis kennt. "Er möchte nicht, dass seine Kinder mit einem verurteilten Mörder als Vater aufwachsen", sagt Regina Rick. "Er weiß, dass er es nicht getan hat, und er ist bereit dafür zu kämpfen bis zum bitteren Ende - und wenn es jahrelang dauert."