"Erst Kultur macht uns zu Menschen"

Der Musikwissenschaftler Daniel Mark Eberhard spricht über Corona und die Folgen für die Musikbranche

17.07.2020 | Stand 02.12.2020, 10:57 Uhr
Kein Zutritt für Besucher: Viele Clubs und Veranstaltungsorte sind wegen der Corona-Krise derzeit geschlossen. −Foto: Hauser

Eichstätt - Das Corona-Forum ist ein gemeinsames Projekt von Donaukurier und Katholischer Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU). Im Forum greifen wir Fragen auf, die Leser zur Corona-Pandemie eingereicht haben. Diesmal sprechen wir mit dem Musikwissenschaftler Daniel Mark Eberhard darüber, welche Folgen die Pandemie für die Musikbranche hatte und warum das Kultur- und Musikleben für unser Zusammenleben so wichtig ist. Eberhard ist selbst Musiker und gastierte auf internationalen Klassik- und Jazzfestivals. Er spielt Klavier und andere Tasteninstrumente.

Herr Eberhard, die Corona-Pandemie hat nicht nur Industrie, Verkehr und Tourismus stark getroffen, sondern auch das gesamte Kultur- und Musikleben. Wie wirkt sich das auf die Musikbranche aus?
Daniel Mark Eberhard: Die Auswirkungen der Pandemie für die Musikbranche sind weitreichend. Betroffen sind Personen, die in der Musik künstlerisch, pädagogisch, therapeutisch oder wissenschaftlich aktiv sind, aber auch Studios und Tontechniker, der Musikalienhandel, kommunale und private Musikschulen, Akademien und Stiftungen, die das Musikleben aktiv mitgestalten. Auch Gastronomie und Tourismus darf man nicht vergessen. Konzertbesuche sind häufig mit Übernachtungen und Urlaubsreisen verbunden. Die Pandemie hat zugleich deutlich werden lassen: Die Musikbranche ist ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Ich hoffe daher, dass Kultur und Musik über ihren ästhetischen Gehalt hinaus künftig stärker als relevante Wirtschaftsgrößen anerkannt werden.

Welche Möglichkeiten haben Musiker, aktuell Unterstützung zu erhalten?
Eberhard: Die Unterstützungsangebote sind leider sehr begrenzt. Manche Berufsmusiker leben ausschließlich von Konzerten. Zum Beispiel die Mitglieder der Frankfurter Barrelhouse Jazzband, neben der Dutch Swing College Band die dienstälteste Jazzband der Welt. Eines der Bandmitglieder verfügt derzeit über 130 Euro Rente im Monat, da die Gagen von über 100 geplanten Konzerten entfallen sind. Hilfsmittel kann aber je nach Bundesland nur beantragen, wer eigene Betriebsausgaben vorweist. Die Maßnahmen können folglich nur von bestimmten Personengruppen in Anspruch genommen werden. Je länger der Lockdown anhält, desto mehr entstehen daher hochprekäre Lebensverhältnisse. Selbst diejenigen, die parallel musikpädagogisch tätig waren, sahen sich nach dem Lockdown damit konfrontiert, dass der Musikunterricht inner- und außerhalb von Schulen stark eingeschränkt war.

Warum werden die Herausforderungen in der Musik- und Kulturbranche so wenig wahrgenommen? Wird der Wert, den das kulturelle Leben für unsere Gesellschaft hat, verkannt?
Eberhard: Ja, das ist eine zunehmende Bedrohung. Kultur gilt vielfach als ein Luxusgut, das erst dann ins Blickfeld rückt, wenn anderes gewährleistet ist. Das ist ein fundamentales Missverständnis. Kultur - oder Musik als ein Ausschnitt davon - bildet nicht das Sahnehäubchen, sondern die Grundlage unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie gehört wesentlich zum Menschsein. Höhlenmalereien oder Instrumentenfunde, die über 40000 Jahre alt sind, lassen erkennen, dass Musik als Ausdrucksform anthropologisch begründet ist, also zum Wesen des Menschen gehört. Auch die Entwicklung von Sprache ist eng mit dem Singen verknüpft. Wenn wir stattdessen von einer Situation der Kulturlosigkeit ausgehen, zu der Kultur erst nachträglich hinzukommt, widerspricht das zutiefst unserem Selbstverständnis: Erst Kultur macht den Menschen zum Menschen. Sie ist der Ast, auf dem wir sitzen, und an dem wir nicht sägen dürfen.

Viele Musikerinnen und Musiker haben die Pandemie auch als Chance wahrgenommen...
Eberhard: Ja, neben der großen Depression hat die Pandemie auch einen großen Aktionismus ausgelöst. Die Mischung aus Notsituation und neuen Kommunikationstechnologien hat die künstlerische Praxis, aber auch die Musikpädagogik der vergangenen Wochen geprägt. Dazu gehörten künstlerische Präsentationen und Konzerte im Internet. Viele Musikpädagogen haben Videokonferenzen für den Musikunterricht genutzt. Es gab Ensembles, die Video-Kompilationen erstellt haben. Da es flächendeckend nach wie vor nicht möglich ist, über das Internet in Echtzeit miteinander zu musizieren, wurden einzelne Videos nachträglich synchronisiert. Zudem sind Internetplattformen entstanden, auf denen man live zu bestehender Musik spielen konnte.

Lassen sich musikalische Erlebnisse im Internet denn überhaupt mit regulären Konzerten oder Club-Abenden vergleichen?
Eberhard: Über das Internet lassen sich sehr viele Menschen erreichen. Wege und Eintritt entfallen. Dadurch verringern sich die Barrieren für Personengruppen, die sonst keinen Zugang zur Musik hätten. Die Atmosphäre eines Konzertes und die Interaktion mit dem Publikum lassen sich aber nicht ersetzen. Wenn man in einem Club die Nähe anderer Menschen spürt oder die Spannung, wenn Musiker die Bühne betreten, dann aktiviert dies die Ausschüttung von Hormonen. Das findet nicht in gleicher Weise statt, wenn die Rezipienten zu Hause vor einem Bildschirm sitzen. Auch der Musikunterricht über eine Videokonferenz lässt sich nicht mit dem regulären Unterricht vergleichen. Das Fazit lautet daher: Wir haben vielfältige Notlösungen gefunden, das mediale Erlebnis kann das Live-Erlebnis oder den Unterricht in Präsenz jedoch (noch) nicht ersetzen.

Betreffen die Einschränkungen auch den Musikunterricht in der Schule?
Eberhard: Ja, die Strategien sind bundesweit sehr unterschiedlich. Für alle Bundesländer gilt jedoch, dass der Musikunterricht nur sehr eingeschränkt stattfindet. Das reicht von Singverboten bis zum Ausfall von Arbeitsgemeinschaften, Chören und Ensembles. Der Bundesverband Musikunterricht (BMU) hat in einer aktuellen Stellungnahme daher die erheblichen Einschränkungen und Bedrohungen des Musikunterrichts angemahnt. Auch das kommende Schuljahr bereitet mir große Sorgen. Diskutiert wird, ob der aktuelle Unterrichtsausfall dadurch aufgefangen werden kann, dass nach dem Sommer die Kernfächer stärker unterrichtet werden. Das bedeutet: mehr Deutsch, Englisch und Mathematik. Wo aber bleiben die Fächer, die wesentlich zum Menschsein gehören? Kunst, Musik und Sport sind prägend für den Schulalltag, sie gestalten die Schulgemeinschaft wesentlich mit und machen die Schule zu einem Ort der Persönlichkeitsentwicklung.

Hat das Auswirkungen für das gemeinschaftliche Zusammenleben?
Eberhard: Ja. In Lehre und Forschung beschäftige ich mich intensiv damit, wie möglichst alle Menschen durch Musik zusammengebracht werden können. Durch das Corona-Virus habe ich lernen müssen, dass der Versuch, Menschen zusammenzubringen, auch als gesundheitliche Bedrohung gelten kann. Das ist das Gegenteil dessen, was wir mit neueren Ansätzen wie "Community Music" zu etablieren versuchen. Unser Ziel ist es, den sozialen Prozess auf eine Stufe mit der musikalischen Aktivität zu stellen. Die Musikpädagogik hat sich lange Zeit zu wenig damit beschäftigt, was Menschen davon abhält, einen Zugang zur Musik zu erhalten. Wer Künstler wird, erlernt Musik als eine Kunst, weniger als eine soziale Praxis. Wir stellen beide Seiten auf eine Ebene. Dabei geht es um Bildungs-und Gerechtigkeitsfragen, weshalb ein solches Konzept als Ergänzung zu unserer aktuellen Bildungslandschaft zu sehen ist.

Was müsste sich an der aktuellen Bildungssituation denn verändern?
Eberhard: Schule wird gegenwärtig als ein Ort verstanden, der vorwiegend ökonomischen Zwecken zu dienen scheint. Junge Menschen sollen möglichst schnell fit für den Markt werden. Dem entgegen scheint es nicht erwünscht, dass Schule ein Ort ist, an dem sich Menschen in Ruhe und mit Muße entfalten können. Das Wort "Schule" bedeutet ursprünglich aber genau das: Muße und freie Zeit. An diese historische Bedeutung müsste wieder stärker erinnert werden und daran, welche zentrale Rolle die musisch-ästhetischen Fächer dabei spielen.

DK

Das Gespräch führte Thomas Metten. Er ist Mitarbeiter der KU und des Projektes "Mensch in Bewegung".