Ein Fall für die Geschichte

Im berühmten Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes fällt heute das letzte Urteil

19.02.2020 | Stand 23.09.2023, 10:45 Uhr
Schwere Eichenvertäfelungen prägen den berühmten Schwurgerichtssaal. Hier fanden auch die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse statt. Nun wird der Saal zum Museum - als Teil des Nürnberger Memoriums, das an die Verfahren gegen einstige NS-Größen nach 1945 erinnert. −Foto: Karmann, dpa

Nürnberg - Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und zahlreiche Kinofilme machten ihn weltberühmt. Kein Gerichtssaal der Welt wurde so oft gefilmt oder fotografiert wie der Saal 600 im Nürnberger Justizpalast. Heute fällt dort das letzte Urteil. Danach ist der Saal nur noch Museum - als Teil des Nürnberger Memoriums, das an die Kriegsverbrecherprozesse nach 1945 erinnert.

 

Mit 246 Quadratmetern Fläche so groß wie zwei Einfamilienhäuser, mit 6,7 Metern Raumhöhe so hoch wie eine Sporthalle, steht der mächtige Saal 600 im historischen Nürnberger Justizpalast für ein Jahrhundert deutscher Justizgeschichte. Sollte der Plan von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und der Nürnberger Stadtväter aufgehen, wird er irgendwann zum Weltkulturerbe gekürt.

Luftwaffen-Kommandeur Hermann Göring, Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß, Reichspräsident Karl Dönitz - 24 Köpfe der obersten Nazi-Prominenz nahmen in diesem Saal vom 20. November 1945 an Platz. Sie saßen auf einer von einem US-Ingenieur angefertigten Anklagebank, die angeblich bei längerem Sitzen besonders unbequem gewesen sein soll. Zwölf Nazi-Obere wurden von dem eigens eingerichteten Internationalen Militärgerichtshof - bestehend aus Richtern und Anklägern der vier Siegermächte - verurteilt.

Wohl kein anderer Gerichtssaal hat eine solch wechselvolle Geschichte hinter sich. In vier Gesellschaftssystemen wurde in dem von schweren Eichenvertäfelungen gesäumten Raum Recht - und auch Unrecht - gesprochen. Eingeweiht 1916 noch vom bayerischen König Ludwig III., wurde der Raum in der Weimarer Republik als Schwurgerichtssaal genutzt. Bei einem für damalige Zeiten aufsehenerregenden Prozess sagte 1925 Adolf Hitler als Zeuge aus. Es ging um Beleidigung, geklagt hatte der damalige Nürnberger Oberbürgermeister Hermann Luppe gegen den Herausgeber der Hetzschrift "Der Stürmer", Julius Streicher.

Später machten sich die Nationalsozialisten den Saal zu eigen - und inszenierten bei einem ihrer über 70 "Sondergerichte" Urteile, etwa gegen politisch unbequeme Bürger. Das Nürnberger Sondergericht, das meist im Saal 600 tagte, galt als besonders brutal. Mehr als 80 Todesurteile sind überliefert, unter anderem von Richter Oswald Rothaug, genannt der "Scharfrichter".

Er soll unter anderem einen polnischen Zwangsarbeiter allein wegen dessen angeblicher Zugehörigkeit "zum Untermenschentum" zum Tode verurteilt haben, wie der Publizist Wolf Stegemann schreibt. Berühmt wurde auch Rothaugs Todesurteil gegen Leo Katzenberger wegen "Rassenschande" - ein Verhältnis zu einer nicht-jüdischen Frau wurde dem Angeklagten angelastet.

1947 saß Rothaug dann im Saal 600 selbst auf der Anklagebank - und wurde in einem Nachfolge-Prozess gegen Nazi-Verbrecher zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Juristen-Prozess unter anderem gegen Rothaug wurde vor allem durch den US-Kino-Streifen "Urteil von Nürnberg" berühmt. "Wo saß eigentlich Spencer Tracy?", fragt eine ältere Besucherin, als sie gemeinsam mit ihrem Mann den Saal besichtigt. Der US-Schauspieler spielte den Vorsitzenden Richter Dan Haywood in dem Film - einem von unzähligen, in denen der Saal 600 zum Hauptschauplatz wurde.

Nach den Kriegsverbrechern folgten unter bayerischer Justizhoheit und bundesrepublikanischem Recht wieder "normale" Verbrecher, die auf der Anklagebank Platz nahmen - Mörder, Totschläger, Vergewaltiger. Der Saal ähnelt heute nur noch grob dem Raum, der unter alliierter Führung 1945 in aller Welt bekannt war. Die Amerikaner hatten die Rückwand herausnehmen und eine Zuschauertribüne einbauen lassen, die Kronleuchter wurden durch Neonlichter ersetzt. Nach Ende der Prozesse wurde vieles rückgebaut. Wer heute genau hinsieht, kann noch helle Flecken in der Wandvertäfelung erkennen - dort hatten die Alliierten einst Öffnungen anbringen lassen.

Trotz des Umbaus in den 1960er-Jahren und ständiger Modernisierungen ist der Saal 600 nie ein moderner Gerichtssaal geworden - nicht nur wegen des überdimensionierten Kruzifixes über der Richterbank. Die Vorsitzende der Schwurgerichtskammer am Landgericht Nürnberg-Fürth, Barbara Richter-Zeininger, verlässt den Saal deshalb mit gemischten Gefühlen. Das gesamte Ensemble, inklusive des Besprechungszimmers für Richter, sei einzigartig.

Aber es gebe auch gravierende Nachteile. "Manche Zeugen sind von der Wirkung des Raumes erst einmal beeindruckt", sagt die Richterin. Auch auf manche Angeklagte wirke der Saal zunächst beängstigend. "Für sie ist das sehr belastend", erinnert sich die Juristin. Unter anderem können wegen der baulichen Voraussetzungen auch die Verteidiger nicht neben ihren Mandanten sitzen - ein Umstand, der nach deutscher Rechtssprechung nur noch mit Sondergenehmigung möglich ist.

Der letzte, der im Saal 600 von Barbara Richter-Zeininger seinen Urteilsspruch erfahren wird, ist an diesem Donnertag ein Mann, der versucht haben soll, seine Frau zu erwürgen. Im historischen Maßstab ist die letzte dort verhandelte Tat vergleichsweise harmlos - und das zu erwartende Strafmaß angesichts unzähliger verhängter Todesstrafen ohnehin.

DK

Martin Danhauser