Doping-Prozess in München eröffnet

Angeklagter Mediziner hüllt sich noch in Schweigen - Dem Arzt drohen bis zu zehn Jahre Haft

16.09.2020 | Stand 23.09.2023, 14:11 Uhr
  −Foto: Kneffel, dpa/Imago

München - Um 10.04 Uhr - die Sportler bei der Tour de France sitzen da wahrscheinlich gerade vor dem zweiten Frühstück - betritt Mark S. den Sitzungsaal A101 im Münchner Landgericht.

Für die Radfahrer in Frankreich wird es heute von Grenoble nach Méribel gehen. 170 Kilometer. Zwei Berggipfel der höchsten Kategorie. Königsetappe, so nennen das die Rad-Aficionados.

Auch Mark S. würde normalerweise wohl verfolgen, wie sich die Pedalhelden in den Alpen schlagen - schließlich ist er dem Radsport zugetan. Ja mehr noch: In den vergangenen Jahren hat der Erfurter selbst bei der Tour de France mitgemischt. Und bei anderen großen Rundfahrten. Und bei der Nordischen Ski-WM. Und bei Olympischen Winterspielen.

Allerdings ist S. nicht etwa als Teilnehmer dabei gewesen. Sondern er und seine Helfer haben - wenn die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft München stimmen - dort startende Sportler im Vorfeld Blut abgezapft, es aufbereitet und kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. Eigenblutdoping lautet der Fachbegriff, und das ist nach dem Antidopinggesetz strafbar. Und so sitzt S. an diesem Mittwoch nicht etwa vor dem Fernseher, sondern muss sich im Landgericht München verantworten - wegen Verstößen gegen Arzneimittel- und Dopinggesetze in fast 150 Fällen.

Der Prozess ist das größte in Deutschland geführte Doping-Verfahren seit Jahren. Neben dem Arzt sind vier Helfer angeklagt, darunter sein Vater. Als Drahtzieher gilt aber Mark S., der laut Staatsanwaltschaft spätestens ab 2011 systematisches Blutdoping betrieben hat. Zu den Kunden gehörten vornehmlich Radfahrer und Wintersportler, vor allem aus Österreich und Deutschland. Die Ermittlungen rund um das Doping-Netzwerk tragen den Namen "Operation Aderlass". Sie führten 2019 zu einer Razzia bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld, wo fünf Athleten und zwei Komplizen des Arztes festgenommen wurden. Besonders eindrücklich war damals das Bild des österreichischen Langläufers Max Hauke, der in flagranti mit einer Nadel im Arm ertappt wurde.

Zeitgleich schlugen Ermittler in Erfurt zu, wo ein Dopinglabor mit Blutkonserven ausgehoben und S. sowie ein weiterer Komplize festgenommen wurden. Der Mediziner sitzt seither in Untersuchungshaft, nun schon mehr als eineinhalb Jahre - trotz aller Anträge seiner Anwälte. Und so wird Mark S. denn auch in Handschellen in den Saal geführt, wo er auf der Anklagebank Platz nimmt. Der 42-Jährige, der deutlich jünger wirkt, macht dort keineswegs den Eindruck eines gebrochenen Mannes. Vielmehr plaudert er locker mit seinen Verteidigern und schaut neugierig im Saal umher.

Experten erhoffen sich von dem Verfahren neue Erkenntnisse, wie der Erfurter Dopingring in der Praxis gearbeitet hat. Ob überdies auch neue Namen von Sportlern auftauchen? Das wird nicht zuletzt von den Aussagen des Angeklagten. S. hat sich dem MDR zufolge zunächst gegenüber den Ermittlern geäußert, zuletzt aber geschwiegen. Mehr als 20 Sportler sollen der Arzt und seine Helfer beim Blutdoping unterstützt haben - darunter den österreichischen Langläufer Johannes Dürr, dessen Aussagen in einem ARD-Film die Ermittlungen ins Rollen brachten. Spitzenathleten gehörten nach derzeitigem Stand nicht zu den Kunden des Arztes. Zu den bekannteren Namen zählen die früheren Radprofis Danilo Hondo, der Blutdoping eingeräumt hat, und Alessandro Petacchi, der selbiges bestreitet.

Die Namen etlicher Sportler tauchen dann auch in der Anklageschrift auf, deren Verlesung durch Oberstaatsanwalt Kai Gräber fast den kompletten Vormittag einnimmt. Auf 145 Seiten wird minutiös aufgelistet, wie S. und seine Komplizen durch die Welt reisten, um ihre Kunden beim Eigenblutdoping zu betreuen - im Gegenzug für Bargeld. Zwischen 5000 und 30000 Euro sollen die Athleten jährlich gezahlt haben. Insgesamt habe der Erfurter Dopingring circa 250000 Euro umgesetzt. "Die Blutmanipulationen erfolgten anhand von ausgefeilten Behandlungsplänen", sagt Oberstaatsanwalt Gräber. Die Treffen mit den Kunden hätten konspirativ an Flughäfen, in Hotels und an Autobahnraststätten stattgefunden. Die Blutbeutel waren dabei mit Tarnnamen versehen - "Einstein", "Franzose" oder "TripleX".

Prinzipiell gehe es beim Eigenblutdoping darum, "möglichst viel Sauerstoff ins Gewebe zu bringen, um die Leistungsfähigkeit der Muskeln zu erhöhen", sagt der Pharmakologe Fritz Sörgel vom Institut für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg. Dazu werde dem Sportler Blut abgenommen, daraus die roten Blutkörperchen extrahiert und diese kurz vor dem Wettkampf wieder injiziert. "Blutdoping ist relativ einfach, kann aber nur sehr schwer nachgewiesen werden", sagt Sörgel. Jedoch betont er auch: "Ohne Hilfe können die Sportler das in der Regel nicht machen."

Und genau hier kam mutmaßlich Mark S. ins Spiel. Er arbeitete ab 2006 als Mannschaftsarzt bei den Radsport-Teams Gerolsteiner und Milram. Schon damals kamen Doping-Vorwürfe auf, die er jedoch stets zurückwies. Auch ein 2013 eröffnetes Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Freiburg blieb ohne Ergebnisse. Zuletzt betrieb S. mit seiner Mutter eine Praxis in Erfurt. Bei einer Verurteilung könnte er seine Approbation verlieren. Zudem droht ihm eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren.

Einen Fingerzeig auf das mögliche Strafmaß gibt die Vorsitzende Richterin nach der Anklageverlesung, als sie von einem Verständigungsgespräch aller Prozessbeteiligten berichtet. In diesem habe die Kammer dem Hauptangeklagten im Fall eines Geständnisses eine Haftstrafe zwischen vier und sechs Jahren in Aussicht gestellt. Sein Komplize Dirk Q., bei dem das Gericht von einer Mittäterschaft ausgehe, hätte demnach mit etwa drei Jahren Haft rechnen können, die weiteren Helfer mit Bewährungsstrafen. Ein sogenannter Deal, also eine Einigung über den Strafrahmen im Vorfeld, sei nach dem Gespräch aber nicht zustande gekommen, berichtet die Richterin.

Im Anschluss verliest der Verteidiger von Dirk Q. dann noch einen Antrag, wonach das Verfahren wegen "schwerwiegender Verstöße" einzustellen sei. Unter anderem kritisiert er lückenhafte Akten und die "massive Vorverurteilung" in den Medien. Diese Vorwürfe weist Oberstaatsanwalt Gräber indes zurück; eine Entscheidung über den Antrag wird das Gericht treffen müssen. Derweil erklären die Verteidiger von Mark S., dass er sich an diesem Verhandlungstag nicht äußern werde - dies im weiteren Verlauf des Prozesses aber zu tun gedenke.

Für den Prozess sind insgesamt 26 Verhandlungstage angesetzt. Ein Urteil könnte demnach kurz vor Weihnachten fallen.

DK

Patrik Stäbler