"Die Haltung spielt eine ganz große Rolle"

03.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:36 Uhr
Amelie Ruderer ist stellvertretende Leitende Psychologin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. Die Klinik erforscht und behandelt Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. −Foto: MPI

Ob wir Situationen positiv oder negativ bewerten, wirkt sich auf unser Leben aus. Psychologin und Psychotherapeutin Amelie Ruderer über die Kraft einer optimistischen Einstellung.

 

Frau Ruderer, können positive oder negative Gedanken mein Leben beeinflussen?

Amelie Ruderer: Ja, auf jeden Fall. Der griechische Philosoph Epiktet hat mal gesagt: Nicht die Dinge an sich beunruhigen den Menschen, sondern seine Sicht der Dinge. Es macht also ganz viel aus, wie wir Dinge bewerten. In der Verhaltenstherapie spielen Gedanken eine ganz zentrale Rolle. Denn sie beeinflussen, wie ich eine Situation bewerte, und das löst automatisch ein Gefühl in mir aus. Wenn das gute Gedanken sind, werden das angenehme Gefühle sein und wenn das negative Gedanken sind, werden es unangenehme Gefühle sein. Und das hat auch Einfluss auf unser Verhalten. Also etwa, ob ich mir was zutraue und was in Angriff nehme oder ob ich verunsichert bin und es dann vielleicht sogar vermeide.

Wie kann ich mich denn dazu bringen, positiv zu denken?

Ruderer: Der erste Schritt ist, die Gedanken bewusst wahrzunehmen. Wir denken ja ständig und automatisiert. Das erleichtert uns den Alltag, denn wenn wir alles bewusst durchdenken würden, wären wir viel langsamer. Beim bewussten Wahrnehmen, so machen wir es etwa in der Verhaltenstherapie, schreiben wir die Gedanken auf und schauen: Was sind das für Gedanken und was machen die mit mir? Geben die mir ein gutes oder ein schlechtes Gefühl? Hat das schlechte Gefühl etwas mit der Situation zu tun oder gibt es nicht noch auch eine andere Sichtweise? Sind die Gedanken der Situation angemessen, sind die realistisch? Es macht nämlich einen meilenweiten Unterschied, ob ich mir etwa denke, "puh, das könnte jetzt schwer werden" oder mir von vornherein denke, "das werde ich nie schaffen, das brauche ich gar nicht zu probieren."

Können positive Gedanken auch Krankheiten heilen?

Ruderer: Sie können auf jeden Fall dazu beitragen. Sicher nicht ausschließlich, aber es ist ein wichtiger Schritt. Die Haltung zu einer Krankheit spielt eine ganz große Rolle. Wenn ich mir etwa denke: "Ich habe zwar eine schlimme Krankheit und es ist völlig okay, traurig und manchmal auch verzweifelt zu sein", aber ich trotzdem schaue, dass ich mir positive Gedanken mache, weil das bestimmte Botenstoffe im Gehirn aktiviert, die für gute Gefühle zuständig sind. Bei psychischen Erkrankungen spielt das noch eine viel größere Rolle, aber auch bei somatischen - und das ist ja oft kombiniert. Wenn wir etwa einen schweren grippalen Infekt haben, dann sind wir gleichzeitig nicht gut drauf. Und Menschen, die Depressionen haben, haben oft auch somatische Beschwerden, wie Schlafstörungen, Bluthochdruck, Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust. Die Aspekte bedingen sich also gegenseitig.

Welche Vorteile hat positives Denken im Alltag?

Ruderer: Der erste Schritt ist immer, Gedanken wahrzunehmen und zu schauen, ob sie für eine Situation adäquat sind. Wenn ich etwa trauere, weil ich einen geliebten Menschen verloren habe, ist das völlig normal. Aber dann stellt sich die Frage: Was kann ich nun tun? Wenn ich lerne, für mich eine gesunde Sichtweise zu entwickeln und mir realistische Gedanken zu machen, bekomme ich einen leichteren, entspannteren Umgang mit Situationen. Wenn ich also positive Erfahrungen mache, bewerte ich die Situation entsprechend und dann motiviert mich das für neue Situationen. Zum Beispiel, wenn ich nach einer Trauerphase sage: "Ich werde nie wieder so einen Menschen finden, da brauche ich gar nicht danach zu suchen" - dann wird die Situation eher so bleiben. Aber wenn ich sage: "Ich suche wieder Kontakte nach außen", dann kann sich leichter was ändern. Das kann den geliebten Menschen zwar nicht ersetzen, aber andere Menschen können mir ja auch was geben. Das wird mich dann motivieren, wieder soziale Kontakte aufzusuchen. Es passiert eine ständige Rückkopplung.

Kann positives Denken auch Nachteile haben: Ist zum Beispiel die Gefahr größer, enttäuscht zu werden?

Ruderer: Nein, es gibt keinen Nachteil, positiv zu denken. Aber man darf sich auch nicht etwas schönreden. Es geht um realistische und der Situation angemessene Gedanken. Natürlich kann mal etwas nicht klappen, aber das hängt ja nicht nur von meinen Gedanken ab, sondern auch von anderen Faktoren. Wenn man mal in so einer Kaskade von negativen Gedanken drin ist, muss man das bewusst wahrnehmen, die Gedanken umformulieren und andere Sichtweisen und Bewertungen zulassen. Aber man muss das bewusst üben, das kommt nicht von alleine. Je mehr man das trainiert, desto mehr neuronale Verknüpfungen entstehen im Kopf und dann wird das auch immer besser werden und leichter fallen. Ein stetig positives Denken ist natürlich auch unrealistisch. Es gibt einfach Situationen, in denen unangenehme Gedanken und Gefühle normal sind.

Muss man sich nicht auch mal richtig ärgern können, anstatt immer nur "das Gute" zu sehen?

Ruderer: Auf jeden Fall. Das eine schließt ja das andere nicht aus. Jedes Gefühl hat ja eine Funktion. Es ist ein Signalgeber und sagt mir, ob meine Bedürfnisse gerade erfüllt sind oder nicht. Ärger entsteht, wenn eine meiner Grenzen verletzt wird, also wenn mich jemand beschimpft, körperlich angeht, ungefragt in mein Zimmer eintritt und so weiter. Und dieser Ärger ist auch gut, denn er veranlasst mich, für meine Bedürfnisse einzustehen. Das zentrale Wahrnehmen der Gedanken in Situationen, verbunden mit den Gefühlen, das ist das Wichtige.

Wie ist es mit Angst?

Ruderer: Da kommt es wieder darauf an, mit welchen Gedanken die Angst verknüpft ist. Die Frage ist: Sind die Gedanken adäquat zur Situation? Wie gehe ich mit der Angst um? Zum Beispiel beim Thema Job hinschmeißen und sich selbstständig machen: Dass neue Situationen uns erst einmal Angst machen, ist ganz normal. Die Angst kann dabei auch immer ganz viele wertvolle Gedankenprozesse aktivieren. Angst schützt uns ja auch vor vorschnellen Entscheidungen. Wichtig ist, sich mit seinen Ängsten auseinanderzusetzen und sich ihnen zu stellen. Denn nur so kann ich wissen, ob meine Befürchtungen eintreten oder nicht. Und im zweiten Schritt: Was brauche ich, um mehr Sicherheit zu bekommen? Beim Thema Selbstständigmachen wäre zum Beispiel hilfreich zu prüfen: Wie ist denn das mit dem Kreditrahmen der Bank? Denn nur wenn man sich seinen Ängsten und Befürchten stellt, kann man damit prüfen, ob man genügend Ressourcen oder genügend Fertigkeiten und Fähigkeiten hat, mit der Angst umzugehen.

DK

Das Interview führte

Silvia Obster.