Bad Reichenhall
Kampf gegen die Schneemassen

Ingolstädter Gebirgspionierbataillon ist bei Miesbach und Bad Reichenhall im Einsatz

13.01.2019 | Stand 23.09.2023, 5:37 Uhr
Mit vereinten Kräften räumen Gebirgspioniere aus Ingolstadt das Flachdach des Krankenhauses in Hausham von der Schneelast frei - eine anstrengende Arbeit . −Foto: Richter

Bad Reichenhall/Ingolstadt  (DK) Der Motor der Schneefräse knattert vor sich hin. Es ist Samstagfrüh, zwei Soldaten des Gebirgspionierbataillons 8 aus Ingolstadt stehen auf dem Flachdach des Krankenhauses Agatharied in Hausham bei Miesbach und bedienen das Gerät. Schneeflocken tanzen um ihre Gesichter, im hohen Bogen wirbelt die weiße Pracht durch die Luft hinab auf den Boden. Nebenan schaufeln ihre Kameraden unermüdlich Schnee weg, Meter für Meter geht es voran.

Seit Tagesanbruch schuften sie hier. Sie tragen Gurte zur Sicherung, niemand soll in die Tiefe stürzen. Die weißen Tarnanzüge, sonst bei Übungen im Einsatz, haben hier einen anderen Zweck: Sie halten Wind und Nässe ab. Nach jeweils 30 Minuten ist Pause befohlen. Ausnahmslos, denn die Kräfte wollen eingeteilt sein. Im Technikraum, unter Lüftungsrohren und Versorgungsleitungen des Krankenhauses, liegen Isoliermatten. Hier können die Ingolstädter Soldaten sich ausruhen. "Ich bin froh, dass wir diese Unterstützung haben", sagt Michael Guggemoos, kaufmännischer Direktor der Klinik. "Noch sind wir nicht an der Grenze der statischen Belastbarkeit angelangt." Trotzdem sei es ein gutes Gefühl, wieder Spielraum zu haben. Zuletzt habe es vor zehn Jahren so stark geschneit.
Es sind Tage voller Anstrengungen und Mühen. Freie Wochenenden oder Urlaub? Die gibt es vorerst nicht, davon können die zur Katastrophenhilfe abkommandierten Kräfte - 108 Männer und 6 Frauen der Gebirgspioniere - im Moment nur träumen. Seit vergangener Woche sind sie im Hilfseinsatz bei Miesbach, Mittenwald, Bad Reichenhall und Berchtesgaden, um den Menschen im Voralpenland beim Kampf gegen die Schneemassen beizustehen. Sie tun es mit großem Engagement und ohne zu murren. Wie lange die Abordnung noch dauern wird? "Wir wissen es nicht", sagt ihr Kommandeur Sebastian Klink. "Wir bleiben, solange wir angefordert und gebraucht werden." Am Samstag überzeugt er sich beim Truppenbesuch, wie es seinen Leuten geht. "Gibt es Grund zu Klagen?", fragt er eine Gruppe Männer. "Alles bestens", antwortet ihm ein großgewachsener Stabsgefreiter und lacht. Drinnen sitzt eine Gruppe an einem Tisch und trinkt Wasser; Alkohol ist strikt verboten. "Ihr bekommt die Ration, auf die ihr hier verzichten müsst, irgendwann später", verspricht der Kommandeur. Die Männer nehmen ihn beim Wort.

Das Landeskommando Bayern der Bundeswehr hatte am Donnerstag den Marschbefehl Richtung Süden ausgegeben, nachdem in immer mehr Landkreisen des Oberlandes der Katastrophenfall gilt. Die Ingolstädter Einheit macht sich nach Abstimmung mit der übergeordneten Gebirgsjägerbrigade 23 in Bad Reichenhall sofort auf den Weg. Dort, in der Hochstaufen-Kaserne, ist in aller Eile ein Krisenreaktionszentrum eingerichtet worden. Hauptmann Christian Clade ist als Verbindungsoffizier für das Ingolstädter Bataillon eingeteilt. Hier laufen alle Fäden zusammen. "Er ist der Mann mit der Pionierbrille auf, der die Dinge aus unserer Sicht auf den Punkt bringt", sagt Oberstleutnant Klink.
Denn die Gebirgspioniere gelten als ausgesprochene Spezialisten. "Unsere Offiziere sind alle ausgebildete Bauingenieure und Bautechniker, also echte Fachleute", erklärt Klink. "Man könnte uns auch als bewaffnete Bauarbeiter bezeichnen." Die Pioniere sind Wegbereiter, egal ob es nun darum geht, solche von Hindernissen freizumachen oder neu zu erstellen, Brücken und Stege zu bauen oder Sprengungen vorzunehmen - das Aufgabenfeld ist vielseitig. Ins Voralpenland haben sie schweres Gerät mitgenommen: einen Pionierpanzer Dachs, Lade- und Planierraupen, Kipper, eine große Schneefräse und einen Fahrzeugkran. In Kooperation mit zivilen Hilfskräften kämpfen sie gegen die Schneemassen.
Die Aufgabe der Helfer in Uniform ist ganz klar geregelt: "Erste Priorität hat die Räumung von Dächern, bevor der Regen kommt und die Schneelast mehr als verdoppelt", erläutert Hauptmann Clade. "Das ist besonders bei Krankenhäusern und sozialen Einrichtungen wichtig. Wenn da etwas einstürzen würde, käme noch eine Evakuation hinzu." Eine solche Zuspitzung der Lage will sich keiner antun, es reicht auch so schon. "Die nächste Priorität gilt dem Schutz oder der Wiederherstellung der Infrastruktur, zum Beispiel dem Freiräumen von Straßen und Versorgungswegen."

Selbst aus der Luft nehmen die Gebirgspioniere aus Ingolstadt am Katastrophenschutz teil. Sie haben eigens einen Reservisten aktiviert: Hauptfeldwebel Thomas Graßl ist im zivilen Leben als Sprengmeister tätig, er sei ein echter Experte auf seinem Gebiet, sagen seine Kameraden. Am Samstagvormittag nimmt Graßl in einem Helikopter des Hubschraubergeschwaders 64 Platz, um die Lage von oben zu sondieren. Er soll am Nachmittag Schneefelder bei Reit im Winkl per Sprengung lösen. Die vorherige Erkundung nutzen er und die Crew, um mit dem Luftwirbel der Rotorblätter Stromleitungen und Bäume, die auf Verkehrswege zu stürzen drohen, vom Schnee zu befreien. Mittags löst Oberstleutnant Sebastian Klinkl seinen Hauptfeldwebel kurz im Hubschrauber ab. Graßl setzt später zwei Sprengladungen an lawinengefährdeten Hängen ab. Sie explodieren, zeigen aber nicht die gewünschte Wirkung. "Der Schnee ist einfach schon zu nass, um abzugehen", heißt es im Krisenreaktionszentrum.
Oberstleutnant Klink hat derweil "nach Berchtesgaden verlegt", wie es im Militärdeutsch heißt. Im Gepäck der Mannschaft: zwei Radlader. Bei Buchenhöhe ist eine Zufahrt gesperrt, meterhoch liegt der Schnee, umgestürzte Bäume blockieren die Straße. Ein Fall für die Pioniere. "Macht lieber mein Dach frei", ruft eine Frau aus einem eingeschneiten Haus herüber. Sie dürften das nicht einfach so, der Auftrag müsse über das Landratsamt kommen, antwortet Brigadegeneral Jared Sembritzki, Kommandeur des Gebirgsjägerbataillons 23.

Ein paar Meter des Weges sind frei, als es dunkel wird. Am nächsten Tag wollen die Ingolstädter Soldaten ihren "Dachs"-Panzer mitbringen und richtig durchräumen. Jetzt ist erst einmal Feierabend, geschlafen wird auf dem Turnhallenboden einer Schule. Komfort sieht anders aus. Am Sonntag kommt dann Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zu Besuch. Sie darf zuschauen, wie die Gebirgspioniere das Haus der eingeschneiten Frau nun doch freischaufeln. "Es hat sich herausgestellt, dass ihr Mann einer unserer Soldaten ist und sich gerade auf Norwegen-Übung befindet", sagt Oberstleutnant Klink. "Da machen wir das doch gern als Notfall und Kameradenhilfe."

Horst Richter