Ingolstadt
Besser als Mehrheitsentscheidungen?

14.05.2018 | Stand 02.12.2020, 16:24 Uhr

Ingolstadt (DK) Wie der Mathematiker Erich Visotschnig mit einer neuen Methode zur Konsensfindung die Demokratie retten will

Herr Visotschnig, Sie sind einer der Erfinder des Systemischen Konsensierens - des SK-Prinzips. Erklären Sie uns bitte, was das ist.

Erich Visotschnig: Zum Unterschied zur Mehrheitsabstimmung, wo das geschieht, was die meisten wollen, geschieht beim Systemische Konsensieren das, was die wenigsten stört. Dadurch entstehen kein Gegeneinander und keine Polarisation wie beim Mehrheitsprinzip. Wenn man beim Systemischen Konsensieren Erfolg haben will, muss man den Widerstand so gering wie möglich halten. Das heißt, man muss auf die anderen eingehen und ihre Bedürfnisse und Wünsche berücksichtigen. Entgegenkommen wird zum Eigeninteresse.

Wie funktioniert das praktisch?

Visotschnig: Zunächst verträgt das Systemische Konsensieren eine Vielzahl von Vorschlägen. Jeder Vorschlag wird von jeder Person mit Widerstands-Stimmen bewertet. Das Spektrum reicht von null: Ich habe keinen Widerstand, bis zehn: Alles, nur nicht diesen Vorschlag. Die Widerstands-Stimmen werden dann pro Vorschlag zusammengezählt: Der Vorschlag mit dem geringsten Wert an Widerstand kommt dem Konsens am nächsten und wird umgesetzt.

Das klingt jetzt sehr simpel. Sie behaupten, mit dem Systemischen Konsensieren ließe sich unsere Demokratie retten? 

Visotschnig: Ja, das wäre unsere Hoffnung. Wenn ich unsere derzeitigen Demokratien betrachte, dann kann man Parteien wählen - aber wenn man sie einmal gewählt hat, ist kein Nein mehr möglich. Aber die wirkliche Achtung, die ich mir von einem politischen System wünsche, ist, dass ein Nein jederzeit geäußert werden kann. Einer der wichtigsten Sätze des Systemischen Konsensierens lautet: Die Achtung vor einem Menschen zeigt sich im Umgang mit seinem Nein. Das heißt: Jeder soll überall und ohne bürokratische Hürden mitbestimmen können, wenn es die Grenzen der eigenen Freiheit betrifft. Insofern, glaube ich, ist in unserer Politik noch viel zu tun.

Die Lösung mit dem geringsten Widerstand - ist das immer der beste Weg? Kann nicht auch ein schaler Kompromiss dabei herauskommen?

Visotschnig: Nun ja, normalerweise erhalten schale Kompromisse großen Widerstand und werden im Normalfall nicht angenommen. Konsensiert - wie wir sagen - werden Vorschläge, die das Problem befriedigend lösen und ein Minimum an unangenehmen Nebenwirkungen haben.

Wo kann das Systemische Konsensieren eingesetzt werden?

Visotschnig: Einsetzen kann man es überall, wo Gruppen gemeinsam Entscheidungen fällen - sei es in Familien, in Vereinen, in NGOs, in der Wirtschaft, in der Politik. Man kann es sogar bei Entscheidungen einsetzen, die man für sich allein trifft. Und es wird auch schon überall eingesetzt.

Können Sie uns Beispiele nennen?

Visotschnig: Die Gemeinwohl-Ökonomie zum Beispiel konsensiert seit Jahren. In der Steiermark wurden in der letzten Legislaturperiode von der Landesregierung Gemeindezusammenlegungen verfügt - unter viel Streit. Eine dieser Gemeindezusammenlegungen wurde durch Systemisches Konsensieren durchgeführt: In nur zwei Arbeitstagen hatte man einen Entwurf, der von vier beteiligten Bürgermeistern unterschrieben und jetzt umgesetzt wurde.

Die Fragen stellte Suzanne Schattenhofer.

Erich Visotschnig (78) stammt aus Graz und ist Mathematiker und Physiker. Er hat sich intensiv mit machtfreien Strukturen auseinandergesetzt und ist gemeinsam mit Siegfried Schrotta Erfinder des SK-Prinzips. Sein Buch "Nicht über unsere Köpfe" erschien im März. Am Donnerstag, 17. Mai, hält er um 18.30 Uhr einen Vortrag Vronis Ratschhaus in Ingolstadt, Donaustraße 1.