''Ein sonderbares Gefühl'' - Züge fahren wieder auf Unglücksstrecke

20.02.2016 | Stand 02.12.2020, 20:11 Uhr

Holzkirchen/Rosenheim (dpa) Sie fahren wieder - elf Tage nach dem schweren Zugunglück mit elf Toten bei Bad Aibling hat die Oberlandbahn den Betrieb auf der Strecke wieder aufgenommen. Ihr Geschäftsführer fährt selbst mit. Mancher Reisende hat ein mulmiges Gefühl, andere sind gelassen.

Samstag, 6.30 Uhr, Bahnhof Holzkirchen - der erste blaue Meridian steht in der Morgendämmerung auf Gleis 5. Es ist nicht irgendein Zug. Es ist der erste, der seit dem schweren Zugunglück mit elf Toten in Bad Aibling auf der Strecke wieder nach Fahrplan verkehrt. Wenige Minuten vor der Abfahrt Punkt 6.37 Uhr steigt Ben Reimann als erster Fahrgast ein - er nimmt den letzten Wagen. „Ich hab' ein ganz komisches Gefühl“, sagt der 51-Jährige aus Schwaben, der nach Salzburg unterwegs ist, zur Zugbegleiterin.

Elf Tage nach der Katastrophe versucht die Bayerische Oberlandbahn (BOB) als Betreiber der eingleisigen Linie zwischen Holzkirchen und Rosenheim wieder Normalität in ihren Betrieb zu bringen. Doch auch BOB-Geschäftsführer Bernd Rosenbusch weiß, dass es noch lange dauern wird, bis seine 120 Mitarbeiter nicht mehr ständig an eines der schwersten Zugunglücke in Deutschland denken, sondern der Alltag einkehrt.

„Wir befinden uns noch immer in der Trauerphase“, sagt der 42-Jährige. „Wir haben vier Mitarbeiter und sieben Reisende verloren. Dennoch war es uns wichtig, so schnell wie möglich wieder den Fahrbetrieb aufzunehmen.“ Im Übrigen wollten die Lokführer ihre Züge wieder fahren. Rosenbusch begleitet den ganzen Tag über Züge auf der Strecke. „Man muss in so einer Situation für sein Personal und seine Fahrgäste da sein“, begründet der BOB-Chef seine Präsenz am ersten Tag des Zugverkehrs nach dem Unglück. „Das ist selbstverständlich.“

Armand Felder ist Samstagfrüh von Schaftlach (Landkreis Miesbach) kommend mit dem Meridian nach Rosenheim unterwegs - sein täglicher Weg zur Arbeit. Am Unglückstag nahm er einen Zug später als jenen Meridian 79505, in dem elf Menschen ihr Leben verloren und 85 teils lebensgefährlich verletzt wurden. „Am Bahnhof Kreuzstraße gab es schon Probleme mit der Oberleitung“, erinnert sich der 32-Jährige, „in Bruckmühl mussten wir aussteigen.“ Dass sich einige Kilometer weiter ein schweres Unglück ereignet hatte, wusste er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Jetzt sitzt er mit Kopfhörer im Abteil und hört Radio. Mulmiges Gefühl? „Nein“, sagt Felder, „es ist wie immer.“

Ganz anders geht es einer jungen Auszubildenden, die zu ihrer Arbeitsstätte nach Rosenheim fährt. Die 16 Jahre alte Friseurin - ihren Namen will sie nicht sagen - lenkt sich mit Videospielen am Smartphone ab. „Ein sonderbares Gefühl“, sagt sie. Wären am Unglückstag nicht Faschingsferien gewesen, hätte die Jugendliche wie Dutzende andere Schüler im Meridian 79505 gesessen. Es wäre ihr wöchentlicher Berufsschultag gewesen. So hatte sie frei: „Es war Glück.“ Eine Freundin von ihr saß im Unglückszug. Sie brach sich die Nase und kam damit noch glimpflich davon.

Herbert Kern aus Freilassing arbeitet seit 44 Jahren bei der Deutschen Bahn (DB). Er untersucht Güterwaggons auf ihre Tauglichkeit. Als Jäger ist der 60-Jährige am Samstag im Meridian unterwegs zu einem Seminar nach Bad Tölz, Abfahrt in Rosenheim um 7.40 Uhr. „Das ist schlimm, tragisch“, sagt der Beamte über das Unglück, „aber jetzt müssen alle nach vorne schauen.“

Als der Zug um 7.45 Uhr an der Unglücksstelle vorbeifährt, ist es längst hell, die Sonne scheint. Nur Trauergebinde und frische Baumstümpfe erinnern noch an das schreckliche Geschehen. Für die Bergungsarbeiten musste der Wald neben dem Gleis gelichtet werden. „So etwas kann doch eigentlich nicht passieren“, sagt Reimann beim Vorbeifahren. „Warum konnte der Fahrdienstleiter, als er den Irrtum bemerkte, nicht einfach den Strom an der Oberleitung ausschalten - Saft weg, Zug stopp?“, fragt sich Reimann. „Andererseits: Wie viele Autounfälle passieren täglich.“ Es klingt nicht wie eine Frage, es ist eine Feststellung.