München
Polizeisprecher da Gloria Martins über die Tatnacht: „Wir wollten bewusst Ruhe ausstrahlen“

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

München (DK) Marcus da Gloria Martins war so etwas wie das Gesicht des Amoklaufs. Als nahezu die ganze Stadt in Panik war, beeindruckte der Sprecher der Münchner Polizei viele Menschen mit seinem ruhigen Auftreten – und ließ sich auch durch fast schon hysterische Journalisten nicht aus der Ruhe bringen. Wir haben ein Jahr danach mit ihm gesprochen.


Herr da Gloria Martins, Sie wirkten während der dramatischen Ereignisse des Amoklaufs von München sehr ruhig. Wie kam das?

Marcus da Gloria Martins: Wir haben sehr schnell die Grundhysterie erkannt, die sich im Zuge des Geschehens in der Öffentlichkeit aufgebaut hat, insbesondere in der informellen Kommunikation der Menschen untereinander. Es gab unheimlich viele Gerüchte, Falschdeutungen und -meldungen. Wir wollen in dieser Situation für objektive Informationen, Klarheit und Orientierung sorgen. Wir wollten bewusst Ruhe ausstrahlen – statt auch noch zusätzlich Hektik zu verbreiten. Das war eine Rolle, die wir als Team bewusst angenommen haben.

Wie sehr haben die Falschmeldungen die Arbeit der Polizei erschwert?

Da Gloria Martins: Die Falschmeldungen haben, etwa eine Stunde nach der Haupttat, zu 73 Phantom-Tatorten in der gesamten Stadt geführt. In Verbindung mit der tatsächlichen Nachrichtenlage mit den Fernsehbildern und den Informationen der Online-Medien haben die durch persönliche Messenger-Dienste verbreiteten Informationen für eine nachhaltige Verunsicherung der Bevölkerung gesorgt: Vermeintlich neue Tatorte und Spekulationen über Täter und Tatmotiv haben sofort einen Nährboden gefunden und wurden weitergetragen. Spekulationen über Täter und Tatmotiv hatten zwar kaum Einfluss auf die unmittelbare Polizeiarbeit, sehr wohl aber die zahlreichen Phantom-Tatorte. Wir hätten in dieser ohnehin angespannten Einsatzsituation viele polizeiliche Ressourcen sparen können und so womöglich früher erkannt, dass es sich um einen Einzeltäter handelte. So war das erst kurz nach Mitternacht klar.

Gibt es Lehren, die man aus der Situation gezogen hat?

Da Gloria Martins: Das war der größte Einsatz der Münchner Polizei in der Neuzeit. So, wie das gelaufen ist, können wir – ein Jahr später und nach einer sehr intensiven und strukturierten Nachbereitung quer durch alle beteiligten Bereiche – sagen, dass der Einsatz gut gelaufen ist. Wir hatten keine anderen Optionen bei Herangehensweise im Einsatz und bei der anschließenden Ermittlung. 

Müsste die Öffentlichkeit im Umgang mit sozialen Medien mehr geschult werden?

Da Gloria Martins: Ganz klar, ja. Die Nachrichtenebene mit einer sehr starken Bildsprache – denken Sie an das McDonalds-Video, das Parkhaus-Video und diverse Fotos – und die individuelle Kommunikation auf Messenger-Ebene führten in der OEZ-Nacht zu einer hochemotionalen Informationslage. Da müssen wir ansetzen: Heute wissen wir, dass da unglaublich viele Gerüchte geteilt wurden – korrekte Nachrichten wurde mit falschen Kommentaren versehen und dann weitergeteilt. Und das hat sich aufgeladen: Menschen können beim Weiterteilen nicht die Finger stillhalten, sondern müssen oft noch etwas dazuschreiben oder Dinge sogar umschreiben, zuspitzen, dramatisieren. 

Gab es juristische Konsequenzen?
Da Gloria Martins: Hier muss man differenzieren zwischen den Phantom-Tatorten und den Trittbrettfahrern des Folgetages. An normalen Tagen haben wir 2000 Notrufe. In der OEZ-Nacht waren es 4310. Wir hatten pro Phantom-Tatort bis zu einem Dutzend Anrufe. In der Nachbereitung haben wir diese Notrufe nochmal genau angehört – und da lachte keiner heimlich im Hintergrund. Im Gegenteil: Die Anrufer haben zum Teil geweint, man hat ihnen teilweise die Angst in der Stimme angehört. Und einige haben tatsächlich geschrien, weil sie glaubten, in allerhöchster Not zu sein. Menschen, die die Situation perfide ausnutzten, sind erst am Folgetag aufgetreten: Es gab mehrere Trittbrettfahrer, die in den sozialen Netzwerken Informationen so falsch dargestellt und mit angeblichen Quellen versehen haben, dass wir uns tatsächlich im Bereich eines Straftatbestandes bewegen – hier wurden 26 Strafverfahren eingeleitet.

Wie geht es Ihnen heute, ein Jahr nach dem Anschlag?

Da Gloria Martins: Was sich für mich falsch anfühlt, ist, wenn ich heute in Uniform zum OEZ komme und ein Fernsehteam im Schlepptau habe. Viele Medien wollen dort im Nachgang das damalige Geschehen dokumentieren. Mein Gefühl sagt dann immer: Ich dringe zu sehr in das Private jener Menschen ein, die dort ein- und ausgehen und für die das Geschehen in jener Nacht in deutlich größerer Teil ihrer Lebensgeschichte ist als bei mir.

Die Fragen stellte Alexander Kain.
 

Wir haben uns auch mit einem Ingolstädter Augenzeugen unterhalten und uns erkundigt, wie es ihm ein Jahr nach dem Attentat geht und wie er die Ereignisse verarbeitet hat. Lesen Sie hier mehr dazu: www.donaukurier.de/3468652