Ingolstadt
„Im Alltag beschäftigt es mich eigentlich gar nicht mehr“

20.07.2017 | Stand 02.12.2020, 17:46 Uhr

Ingolstadt (DK) Ein Ingolstädter Augenzeuge des Amoklaufes im Münchner Olympia-Einkaufszentrum erzählt, wie es ihm ein Jahr nach den Ereignissen geht

Heute erscheint ihm das Geschehen ganz weit weg. Fast könnte es ein böser Traum gewesen sein, aber es war bittere Realität. Jens M. aus Ingolstadt hält sich an jenem schwarzen Freitag vor einem Jahr direkt am  Tatort beim Olympia-Einkaufszentrum  auf, als die ersten drei Schüsse fallen. Kurz und trocken hallen sie von den Häuserwänden wider. Der heute 29 Jahre alte Jens denkt zunächst an Chinaböller. Aber das Knallen hört nicht auf. „Als die Leute in Panik gelaufen sind, war mir schnell klar: Da schießt einer! Mir ist die Gefahr schlagartig bewusst geworden.“ Der junge Mann flüchtet und überlebt. Wie fühlt er sich heute, zwölf Monate später? „Mir geht es gut“, sagt er, und es ist exakt dieselbe Antwort wie damals, als er vier Tage nach dem Amoklauf mit uns sprach. Nur dass er kurz nach der Tat noch gar nicht richtig realisierte, wie sehr ihn das schreckliche Geschehen doch traumatisiert hatte. Heute geht es ihm wirklich wieder gut, er kann weitgehend sachlich über das Erlebte sprechen. Die Erinnerung daran wird ihn freilich ein Leben lang begleiten.

Jens denkt eine Weile nach, als es darum geht, seine Empfindungen zu benennen. „Dieses Ereignis ist in meinem Unterbewusstsein gelandet, im Alltag beschäftigt es mich eigentlich gar nicht mehr“, sagt er. Schon wenige Wochen nach dem Amoklauf sei das Geschehen zunehmend in den Hintergrund getreten. „Ich habe mich emotional davon distanziert.“ Der natürliche Selbstschutzmechanismus in ihm hat gegriffen. Thomas Pollmächer, Chefarzt an der Psychiatrischen Klinik am Klinikum Ingolstadt, hatte vor einem Jahr erläutert, wie so etwas abläuft. „Es ist nur ein kleiner Teil der Menschen, der nach solchen Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt“, sagte der Fachmediziner. Anfangs könne es durchaus vorkommen, dass Betroffene sich in einem Zustand der Überwachheit befinden, schreckhaft sind oder unter wiederkehrenden Träumen leiden. Aber die Meisten würden das Erlebte in einem Selbstheilungsprozess reflektieren und Negatives verdrängen.

Für Jens M. gab es eine ganze Menge Ballast aus dem Weg zu schieben. Als er gegen 18 Uhr die Schüsse hört und die Panik der anderen erkennt, nimmt auch er voller Angst die Beine in die Hand und rennt reflexartig davon. Doch er laboriert an den Folgen einer Knie-OP, das Laufen schmerzt. „Aber man schafft einiges, wenn der Schütze nur 50 Meter entfernt ist.“ Selbst eine mehr als zwei Meter hohe Absperrung bedeutet kein Hindernis, beim Sprung über den Zaun verletzt der junge Mann sich an der linken Hand. Er spürt jetzt nichts mehr, nicht einmal Angst. Nur weg hier, hämmert es in seinem Hirn. In einem Wohngebiet bringt er sich in Sicherheit. Erst jetzt merkt er, dass die Hand blutet und wehtut. Was nun? Überall rennen die Menschen in Panik herum. Eine Frau weint fürchterlich, sie hat die Erschießung eines Opfers gesehen.
Wenn es ein positives Erlebnis in diesen Minuten gibt, dann ist es die große Hilfsbereitschaft der Münchner. Ein Ehepaar mit Kind nimmt Jens mit in seine Wohnung und verbindet die Wunde. „Da war kein Zögern, gar nichts.“ Später, als er merkt, dass er an diesem Abend wohl nicht zurück nach Ingolstadt fahren kann, klingelt er bei irgendwelchen Leuten. Sie nehmen ihn auf, als gehörte er zu ihnen, und bieten ihm ein Nachtlager an. Den ganzen Abend telefoniert er mit Familie, Freunden und Bekannten. Er ruft die Mutter an, die im Ingolstädter Klenzepark ein Konzert besucht und nichts von dem Amoklauf weiß. „Mach dir keine Sorgen, ich bin in Sicherheit!“

Jens M. hat sich nach diesem 22. Juli nicht ins stille Kämmerlein verzogen oder gehadert. Das Leben muss weitergehen, trotz der Todesangst, die er zwischendurch spürte. Er hat einfach alles gemacht wie bisher, auch wenn seine Mutter anfangs nervös reagierte, sobald er von daheim fort war. Seine freundlichen Gastgeber für diese eine Nacht besuchte er einige Zeit später und bedankte sich. „Wir sind auf ein Bier gegangen.“ Langsam kehrte Normalität ein. Die anfängliche Schlaflosigkeit und die Albträume, in denen zwei Männer ihn mit einem Messer verfolgten, sind Vergangenheit. Melissentee zur Beruhigung vor dem Schlafengehen? Auch vorbei. Um Weihnachten herum holte das Geschehen ihn einmal kurz ein, als er wieder beim Olympia-Einkaufszentrum arbeiten musste. „Da ist alles noch mal hochgekocht. Aber jetzt fühle ich mich frei.“