"Bräuche passen sich an"

Interview mit der Volkskundlerin Gabriele Wolf von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

11.05.2018 | Stand 02.12.2020, 16:25 Uhr
−Foto: Hartmann

Frau Wolf, in Bayern pflegen Menschen Bräuche besonders liebevoll. Ist das eine Frage der Mentalität.

Gabriele Wolf: "Liebevoll pflegen" ist richtig, das liegt aber weniger an der Mentalität, als vielmehr an der Eigenwahrnehmung in Bayern. Die wird auch von politischer Seite gefördert.

Wie definiert man überhaupt den Begriff Brauch.

Wolf: Aus volkskundlicher Sicht ist ein Brauch ein bestimmter Ausschnitt aus dem sozialen Leben der Menschen - ein Element der Alltagskultur. Kurz gesagt: soziales Handeln in einer bestimmten Form, weitergegeben und wiederholt über längere Zeit. Außerdem hat ein Brauch für die ausführende Gruppe eine hohe Bedeutung - nach innen für das Selbstverständnis und auch nach außen. Eine einheitliche Definition von Brauch gibt es aber nicht.

Es gab ja auch Zeiten, da galt Traditionspflege als verstaubt. Kommt der Mensch auch ohne Brauch aus.

Wolf: Brauch kommt von brauchen. Das soziale Leben muss gestaltet werden und in bestimmten Situationen - wie zum Beispiel an Feiertagen oder bei Übergängen im Lebenslauf - bezieht man sich dann auf tradierte Formen. Bräuche sind nicht nur repräsentative Feiern, die in der Öffentlichkeit aufgeführt werden, sondern werden auch in Familien und Freundeskreisen praktiziert. Ein Beispiel wäre der Kindergeburtstag.

Wie funktioniert das mit den Bräuchen in einer Multi-Kulti-Gesellschaft.

Wolf: Dass Bräuche integrative Funktionen haben heißt ja nicht, dass Menschen, die nicht zu einer Trägergruppe gehören, ausgegrenzt werden müssen. Bräuche passen sich an gesellschaftliche Veränderungen an. Das betrifft dann nicht nur Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund, sondern auch die Teilnahme von Frauen an Bräuchen, die einst nur Männern vorbehalten waren, oder Fragen der Geschlechtsidentität oder der Religion. Vor nicht langer Zeit wurde in einem Schützenverein ein Muslim Schützenkönig, was erst nicht möglich sein sollte. Dann haben die Vereine mit großer Mehrheit ihre Statuten erneuert und nun ist es kein Problem mehr. Bräuche passen sich an, manche verschwinden, neue entstehen.

Und wie entsteht denn ein neuer Brauch.

Wolf: Relativ neu sind zum Beispiel in Bayern viele Perchten- oder Krampusläufe. Die Beteiligten sind sehr engagiert, die Läufe erfreuen sich großer Beliebtheit, immer mehr Gruppen entstehen. Viel sind überzeugt, es handele sich um eine sehr alte Tradition, aus germanischer Zeit - was historisch nicht zu belegen ist. Bei dieser Form von Perchtenläufen kann man eindeutig feststellen, dass sich der Brauch seit etwa 30 Jahren von Österreich aus nach Bayern verbreitet.

Ist das dann ein Miss-Brauch.

Wolf: Bräuche wandeln sich mit der Gesellschaft und der Zeit, deshalb ist es schwierig zu sagen, was ein Miss-Brauch ist. Aber wenn es zu kriminellen Handlungen kommt, wenn es zum Beispiel bei Krampusläufen zu Körperverletzungen kommt, kann man von "Miss-Brauch" sprechen. Dann geht es nicht mehr um den Brauch.

Das Gespräch führte

Suzanne Schattenhofer


ZUR PERSONGabriele Wolf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Volkskunde der Kommission für bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften . Hartmann.