Sein ganzer Weg

"Den ganzen Weg ist er gegangen"

25.05.2018 | Stand 23.09.2023, 3:20 Uhr
Familienmensch - auch das eine Facette der Persönlichkeit von Lothar Vietzke, hier mit seiner Enkelin. −Foto: Fotos: privat

Schrobenhausen (DK) "Den ganzen Weg ist er gegangen" nennt Hildegard Vietzke eine Ausstellung, die am Freitag beginnt. Darin möchte sie die komplette Bandbreite des Schaffens ihres vor zwei Jahren gestorbenen Mannes Lothar Vietzke zeigen.

Er mag kein lauter Mensch gewesen sein. Aber einer, den man - ihm einmal begegnet - nicht wieder vergaß. Ruhig - aber nicht lautlos. Unaufdringlich - aber nicht unnahbar. Einer, der sich selbst zurücknahm - um stattdessen durch seine Kunst mit der Welt zu kommunizieren. Lothar Vietzke war jemand, der sich über das, was er schuf, identifizierte. Mehr als das andere tun. Dass er Kunst lebte, in allen Phasen seines Seins, das war zu spüren. Auch ohne große Worte - die lagen ihm ohnehin nicht.

Wer an den vor zwei Jahren verstorbenen Künstler denkt, dem kommen ziemlich sicher seine enorm ausdrucksstarken Bildhauerarbeiten ins Gedächtnis. Mancher erinnert sich vielleicht an eine kurze Begegnung mit Lothar Vietzke. Bei einem seiner Streifzüge durch sein geliebtes Schrobenhausen vielleicht; die Fotokamera im Anschlag. Oder bei der Vernissage einer seiner Künstlerkollegen. Ging es um seine eigenen Werke, war Vietzke eigen. Seine Anfänge, Akademiearbeiten, Aktzeichnungen, "dieses Hintasten an die Kunst", wie es seine Frau Hildegard Vietzke formuliert, der Öffentlichkeit zu präsentieren, das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. "Das, was er nicht als kunstwürdig empfunden hat, hat er nie ausgestellt."

In der am kommenden Freitag beginnenden Ausstellung versucht Hildegard Vietzke, auch jenen Arbeiten ihres Mannes Raum zu geben, die die Öffentlichkeit bislang nicht zu Gesicht bekam. Auch "Ausreißern" wie dem Holzpokal zum Beispiel, den er einst fürs allererste Sautrogrennen der Wasserwacht gestaltet hat. Oder den bemalten Ostereiern, dem Schnupfenmännlein - auch das übrigens ein kleines Sinnbild dessen, wie allgegenwärtig die Kunst im Leben dieses Mannes war, wie sehr sie ihm auch Stütze gewesen sein mag. Das Schnupfenmännlein hat er gestaltet, weil sein kleiner Sohn im ersten Lebensjahr so oft Schnupfen hatte. Vieles aus Lothar Vietzkes Schaffen taucht im öffentlichen Raum auf, die Figurengruppe vor der Franziska-Umfahrer-Grundschule etwa, anderes, Auftragsarbeiten zum Beispiel, kennen nur wenige. "Aber", betont Hildegard Vietzke, "er hat nur die Auftragsarbeiten gemacht, die ihm Spaß gemacht haben."

Wenn Hildegard Vietzke über ihren Lothar spricht, dann zeichnet sie das Bild eines Mannes, der sich so gar nirgends einordnen lässt: Melancholisch sei er gewesen; er, der sich schon als junger Mensch mit Andreas Gryphius und dem Thema Vergänglichkeit beschäftigt; phlegmatisch - aber keinesfalls faul! Vielmehr einer, "der immer zugelangt hat", ein "totaler Allrounder vom Handwerk her". Und ein Familienmensch. Woraus sich dann auch sein großes Bedürfnis nach dem Miteinander speist, das in seiner Kunst immer und immer wieder aufblitzt. In erster Linie ist das ein Miteinander mit Frau und den beiden Kindern - aber nicht ausschließlich. Und Hildegard Vietzke sagt: "Er war ein Exot", neugierig wie stolz, eigenwillig wie stur. Mitunter so stur, dass ihm das selbst zu schaffen machte.

So speziell ist Lothar Vietzkes Vita auch deshalb, weil zunächst rein gar nichts in Richtung Künstlerleben deutet, er beruflich erst mal den Weg zum KFZ-Mechaniker einschlägt. Seine unbändige Liebe zur Natur bekommt er vom Elternhaus mit, die Leidenschaft für Stift und Papier nicht. Trotzdem scheint da immer schon etwas in ihm zu schlummern, das sich irgendwann Bahn bricht. Vietzke beginnt, erste Schritte auf dem künstlerischen Parkett zu machen. Einfach, weil's ihm Spaß macht.

Es läuft, wie so oft im Leben. Man mag es Zufall nennen, Schicksal oder Bestimmung: Der springende Punkt für die Veränderung in Vietzkes Leben ist die Begegnung mit Künstler Franz Maurer. "Eine bereichernde Weichenstellung in unserem Leben", blickt Hildegard Vietzke heute zurück. Es folgt ein Steinmetzpraktikum bei Bildhauer Karl-Heinz Torge. Ende der 70er-Jahre, als er bereits abstrahierender Bildhauer ist, beginnt Vietzke ein Studium an der Akademie für Bildende Künste in Nürnberg. 1980 mündet das alles in Vietzkes erste Einzelausstellung in der evangelische Kirche.

Irgendwann kommt auf Vietzkes Weg eine Periode, in der die Leichtigkeit Einzug in sein Schaffen hält, und damit ein ziemlicher Kontrast zur traditionellen Bildhauerei. Er stellt Lichtskulpturen her, Arbeiten aus Stahl, teilweise sogar beweglich. Es folgen Digitalphase und Fotografie. "Er hatte mit den Fotos kein Ziel, er hat sie einfach gemacht", sagt seine Frau. Seine Kalender-Trilogie entsteht. Bei vielen kommt sie an, bei einigen wenigen nicht. Denn ein ausnahmslos hochglanzpoliertes Bild seiner geliebten Stadt zu zeichnen, so etwas ist nicht Lothar Vietzkes Ding.

Zu den umfangreichen Facetten dieser auf seine ganz eigene Weise faszinierend stillen und dennoch schillernden - weil ausdrucksstarken - Künstlerpersönlichkeit gehört auch die Zeit, in der er sich als Dozent an der Neuburger Sommerakademie engagiert. Oder jene, in der er die Schwiegermutter pflegt, sie auf ihrem letzten Weg begleitet - und dabei stundenlang zeichnet. Es entstehen die womöglich berührendsten Bilder seines Schaffens. Leid aufnehmen, auch das konnte er, erzählt seine Frau. Doch auch das geschieht irgendwann auf Lothar Vietzkes Weg: Er gerät in eine Umbruchszeit, in der er mit der Kunst generell hadert.

Das Leben des Lothar Vietzke, es ist ein Leben, das vielleicht noch ein bisschen mehr als andere eines stimmigen Gegenpols bedarf. "Der Mann war reine Intuition", sagt Hildegard Vietzke. Die ist auch im Spiel, als sich beim Lumpererball beim Bräumichl ihre Wege erstmals kreuzen. Sie 16, er 19. Man tanzt miteinander. Vor dem Heimgehen gibt er ihr im Dunkeln etwas in die Hand; später, im Licht der Straßenlaterne wird es die 16-Jährige betrachten: eine Kette mit goldenem Herz. "Das hat mich so getroffen", gesteht Hildegard Vietzke. "Er hat mich ausgewählt." Gleich nach dem Abi wird geheiratet. War die Beziehung anfangs "von der ganzen Umgebung bekämpft" - sie, die Extrovertierte, er der in sich gekehrte Kfz-Mechaniker -, "war die Heirat für uns die Freiheit", sagt Hildegard Vietzke. "Emanzipation? Haben wir nicht gebraucht." Der Humanismus brauche keine Emanzipation.

Eben mal so einen 7000-Mark-Auftrag sausen zu lassen, Lothar Vietzke konnte sich das leisten. Die Existenz war durch seine als Lehrerin arbeitende Frau gesichert. "Leider schätzt unsere Gesellschaft nicht die Werte gleich", sagt sie, "jeder hat Wert in seiner Weise, muss seine Talente ausleben." Und: "Wir haben uns gegenseitig Möglichkeiten gegeben, jeder konnte seine Persönlichkeit leben." Als seine Frau den Kunstverein managt, unterstützt Lothar Vietzke sie. So wie er ihr grundsätzlich im Alltag den Rücken freihält. Dass sie und ihr Mann seinerzeit zusammenkommen - sie nennt es eine "grandiose Fügung". Und sie sagt diesen beinah episch anmutenden Satz: "Wenn wir uns unser Leben hätten vorstellen sollen - wir hätten es uns nicht so traumhaft vorgestellt."

Auch wenn diese Ausstellung zu Lebzeiten Lothar Vietzkes in der Form wohl nie hätte stattgefunden - "Ich glaube, dass sie ihm gefallen würde. Jetzt, wo er von seinen menschlichen Begrenzungen erlöst ist." Dass er so früh starb, hat sie von Anfang an akzeptiert. "Ich gehe jetzt meinen Weg", sagt Hildegard Vietzke. "Weil die bessere Alternative fehlt. Mir hat es mit ihm einfach mehr Spaß gemacht." Sie nennt das ihren Epilog.

Gegen Ende seines Weges malt Lothar Vietzke farbige Frauenbilder. Und er gestaltet eine Figur, die in seinen Skizzenbüchern immer wieder auftaucht. "Ich wusste nicht, dass er sie so oft gezeichnet hat", sagt Hildegard Vietzke. Der Säulenhocker, seine letzte Arbeit. Geschlossen. Betrachtend. In sich ruhend. Vielleicht so etwas wie sein Alter Ego, vermutet Hildegard Vietzke. Und: "Offensichtlich war mit dieser Figur sein Weg zu Ende."
 

Ute De Pascale