Aichach
Medizin statt Party-Kiffen

Gericht glaubt einem 25-Jährigen, dass er Cannabis zu Therapiezwecken eingesetzt hat

21.08.2019 | Stand 23.09.2023, 8:16 Uhr

Aichach (SZ) Das Aichacher Amtsgericht schenkte einem 25-Jährigen Glauben, der darlegte, dass er große Menge Cannabis nur zum Eigenbedarf gekauft hat, um die Symptome seiner Angstzustände zu lindern.

Trotzdem bleibt der Besitz strafbar. Mit elf Monaten Haft, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, blieben Richterin Eva-Maria Grosse und die beiden Schöffen aber im untersten Bereich des möglichen Strafmaßes.

Begonnen hat er mit den Cannabis-Käufen laut Anklage im Jahr 2014. Die Staatsanwaltschaft ging von mindestens sechs Käufen aus, bei denen jeweils 100 Gramm Marihuana den Besitzer wechselten. Nach einem Rechtsgespräch, in dem die Prozessbeteiligten vereinbarten, Jugendstrafrecht anzuwenden, war der Angeklagte geständig.

Er erklärte, wie er als Teenager unter der Trennung seiner Eltern litt. Das wurde nicht besser, sondern schlimmer: Mit 16 Jahren begannen Panikattacken, die bis zur Bewusstlosigkeit führten. An manchen Tagen sei es nicht einmal möglich gewesen, das Haus zu verlassen, manchmal musste er vor dem eigentlichen Fahrtziel aus dem Zug aussteigen, weil er die Angstzustände nicht mehr aushielt. Manchmal musste der Rettungswagen gerufen werden. Mehrfach wurden die Panikattacken und Depressionen nicht nur mit Psychotherapie, sondern auch mit Medikamenten behandelt, etwa mit starken Beruhigungsmitteln und Antidepressiva.

Diese Medikamente wirkten zwar, hatten aber zugleich starke Nebenwirkungen. "Das Cannabis lindert die Angstattacken erheblich. Ich kann so auf Psychopharmaka verzichten", erklärte der Angeklagte, der zwar eine Ausbildung abgeschlossen hat, aber seit acht Monaten krank geschrieben ist. Inzwischen hat er einen Arzt gefunden, der ihm Cannabis verschreibt. Davor hatte er angefangen, selbst Marihuana-Pflanzen anzubauen. "Das gestreckte Zeug, das man kaufen kann, hat mir nicht so gut geholfen. "

Richterin Eva-Maria Grosse hielt die Ausführungen des 25-Jährigen für durchaus glaubwürdig. "Wir verstehen den Weg, den Sie gegangen sind, und Sie sind auch in all den Jahren nicht als der lustige Party-Kiffer aufgefallen. " Trotzdem ist der Besitz von Marihuana strafbar, vor allem in so großen Mengen und über einen so langen Zeitraum. Im Erwachsenenstrafrecht wäre eine deutlich höhere Strafe verhängt worden. Die Staatsanwältin forderte deshalb zwei Jahre Haft zur Bewährung.

Die Bewährungszeit für den Angeklagten, über den sich auch ein Gutachten der Jugendgerichtshilfe sehr positiv geäußert hat, beträgt drei Jahre. Er muss 40 Stunden sozialen Dienst leisten, obwohl sein Rechtsanwalt Bedenken formuliert hatte, dass dadurch die Angstzustände seines Mandanten verschlimmert werden könnten. "Sie sind noch jung. Ich will nicht glauben, dass Sie das nicht können. Ich will, glauben, dass Sie das schaffen", ermutigte ihn Amtsrichterin Eva-Maria Grosse abschließend.

CANNABIS ALS MEDIZIN

Nach einer Gesetzesänderung können Ärzte seit März dieses Jahres medizinisches Cannabis verordnen. Bisher konnten Patienten lediglich bei der Bundesopiumstelle des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Ausnahmeerlaubnis beantragen. Bei welchen Krankheiten Cannabis eingesetzt werden darf, regelt das Gesetz nicht. Es gibt zwar bereits erste Studien, trotzdem ist die Wirksamkeit von Cannabis im Einzelnen noch nicht hinlänglich untersucht. Die Bundesärztekammer schreibt dazu: Es liegen akzeptable wissenschaftliche Erkenntnisse bislang nur für die begleitende Behandlung von Spastiken, Übelkeit und Erbrechen durch Zytostatika (Chemotherapie) sowie chronische Schmerzen vor. Eine mögliche Wirksamkeit wird zudem in der Literatur für Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust bei HIV/Aids, Schizophrenie, Morbus Parkinson, Tourette-Syndrom, Epilepsie, Kopfschmerzen sowie chronisch entzündliche Darmerkrankungen diskutiert.

Häufig wird bei der Behandlung chronischer, besonders neuropathischer Schmerzen (Schmerzen des Nervensystems) darauf zurückgegriffen. Erste Hinweise auf Wirksamkeit gibt es inzwischen auch für verschiedene Hauterkrankungen wie Psoriasis oder Neurodermitis, bei internistischen Erkrankungen wie Arthritis, Colitis ulzerosa oder Morbus Crohn sowie bei Glaukomen. In der Psychiatrie wird es unter anderem bei Angststörungen, Depressionen, ADHS und posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt.

Inzwischen übernehmen Krankenkassen häufig die Behandlungskosten, es muss aber vorab ein Antrag gestellt werden. Cannabis kann oral oder mit Hilfe eines Inhalators eingenommen werden. Die Einnahme erzeugt keinen rauschhaften Zustand, es gibt auch keine Indizien, dass medizinisches Cannabis süchtig macht.

Carina Lautenbacher