Schrobenhausen
Knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert

Der Langenmosener Wolfgang Haas untersuchte, warum es am 26. April 1945 nicht zu einem großangelegten Bombardement auf den Hagenauer Forst kam

25.04.2021 | Stand 23.09.2023, 18:12 Uhr
Wolfgang Haas zuhause in an einem seiner Arbeitsplätze mit dem im Hagenauer Forst produzierten Originalprodukt, dem Pentaerythrit von 1942. −Foto: Floerecke

Seit fünf Jahren beschäftigt sich Wolfgang Haas intensiv mit der Geschichte rund um den damals geheimen Rüstungsstandort der Nationalsozialisten im Hagenauer Forst. Jetzt ist der Langenmosener auf eine neue, bedeutende und gleichzeitig schockierende Erkenntnis gestoßen: 23 US-amerikanische Kampfflieger waren am 26. April 1945 von Belgien auf direktem Weg nach Schrobenhausen, um über dem Werk mit seinen 107 Bauwerken zum zweiten Mal während des Krieges Bomben abzuwerfen. Zu dieser Bombardierung kam es glücklicherweise nicht. Sie hätte wohl ein verheerendes Ausmaß angenommen.

Wolfgang Haas recherchiert, untersucht, wertet aus. Und fliegt dazu auch gerne mal, wenn nicht gerade Corona ist, nach Frankreich oder in die USA, um dort aus früheren Geheimakten an weitere Detailinformationen über die ehemalige Schrobenhausener Kriegsfabrik zu gelangen. Auf einige aufschlussreiche Erkenntnisse ist der Fachmann für Elektronik und Funktechnik im Ruhestand bereits gestoßen. Jetzt aber hat der geschichtsinteressierte Langenmosener etwas Bahnbrechendes über die letzten Kriegstage in Schrobenhausen herausgefunden. Ganz zufällig, wie er sagt.

In der "Library of Congress", der digitalen, öffentlich zugänglichen Forschungsbibliothek des US-Kongresses, entdeckte er mit Schreibmaschine geschriebene Tagebucheinträge des damaligen US-Luftwaffengeschwaderführers Captain William P. Morton. Darin sei, sagt Wolfgang Haas, "eindeutig und ohne Zweifel" belegt: Die zweite Bombardierung des "Oil Depot Schrobenhausen" war für Donnerstag, 26. April 1945, befohlen, nachdem der erste Angriff zwei Tage zuvor "wenig effektiv", wie es Haas formuliert, war. Die Amerikaner hätten, und das weiß der 67-Jährige aus historischen Archiven schon lange, zu diesem Zeitpunkt befürchtetet, Hitlers Alpenfestung würde von Schrobenhausen aus mit Treibstoff versorgt werden.

Aus dem kürzlich entdeckten Tagebucheintrag des Chef-Piloten geht erstens hervor, dass das Bomberschwadron mit 23 Flugzeugen vom belgischen Militärflughafen Florennes mit voller Beladung, insgesamt 92 Stück 1000-Pfund-Bomben vom Typ AN-M65, bereits in der Luft gewesen ist. Ziel war nachweislich das vermeintliche Treibstofflager Schrobenhausen. Zweitens ist darin dokumentiert, dass "alle Bomber zum belgischen Stützpunkt wieder zurückbeordert worden sind".

Der Grund: Zeitgleich hatten die Bodentruppen der dritten US-Armee von General Patton die Donau Richtung Süden überquert und waren über dem Donaumoos auf dem Weg in Richtung Bombardement-Zielgebiet Hagenauer Forst. Wolfgang Haas geht davon aus, die Koordinaten der eigenen Bodentruppen dürften der amerikanischen Luftwaffe nicht exakt bekannt gewesen sein. Durch die permanente Verschiebung der Frontlinie nämlich hätten die strategischen Planer keine absolute Sicherheit gehabt, an welcher Stelle sich ihre Truppen gegenwärtig befanden.

Vergleicht der Hobby-Forscher diese Textstellen mit den im stundenweisen Abstand aktualisierten Karten der Bodenfrontlinie amerikanischer Panzer, kommt er zum Schluss: "Die Bomber sind zurückgepfiffen worden, denn die Gefahr, eigene Soldaten zu treffen, war in diesem Moment für die Amerikaner einfach viel zu groß."

KONSEQUENZEN

Schrobenhausen, sagt Haas, habe "großes Glück" gehabt und hätte im Falle einer zweiten Bombardierung "wohl verhängnisvolle Folgen" erlitten. Er wolle damit aber, wie er betont, "keine spektakulären Nachrichten verbreiten, sondern vielmehr aufklären". Denn er geht davon aus, dass die nachweislich geladenen, 1,7 Meter langen Sprengkörper mit einer Sprengstofffüllung von jeweils 280 Kilogramm TNT einen "Bombenhagel mit erheblichen Schäden" verursacht hätten.

Fest steht: Zu jener Zeit hatte man von der Luft aus eine relativ geringe Zielgenauigkeit. Denn nachdem die deutsche Luftabwehr noch in Teilen aktiv war, hätten die Amerikaner aus Selbstschutz deutlich höhere Anflugkurse gewählt. Das hätte zwangsläufig zu größerer Streuung etwaiger Bombeneinschläge geführt, ist sich Wolfgang Haas sicher. Und meint weiter, "die mächtigen Bomben beim zweiten Anlauf wären bei einem Abwurf teilweise abgedriftet und hätten die Peripherie getroffen". Steingriff, Sandizell, Drei Linden und die Schrobenhausener Altstadt - nicht allzu weit vom Hagenauer Forst entfernt.

Der Langenmosener belegt seine Behauptung auch mit dem vergleichbaren, tatsächlichen Bombenhagel am Neuburger Flughafen, zwei Flugminuten von Schrobenhausen entfernt. Die ihm vorliegenden Luftaufnahmen vor und nach der Bombardierung zeigen "eindeutig" die Zerstörung und die Streuung über einen Umkreis mehrerer Kilometer anhand zahlreicher Bombenkrater. Noch heute, weiß Haas, befinden sich im Umkreis des Neuburger Nato-Flughafens Blindgänger und Munitionsreste im Boden. Das Betretungsverbot besteht dort teilweise immer noch. Man könne sich, meint er, daher bestimmt vorstellen, was das für die Schrobenhausener Bevölkerung am 26. April 1945 und danach bedeutet hätte.

BOMBENABWURF

Vorausgegangen war, und das ist längst bekannt, die erste und einzige Luft-Bombardierung auf Schrobenhausen. Am Dienstag, 24. April 1945, um 15.22 Uhr fand sie statt. "Das Werk ist nachweislich getroffen worden", sagt Wolfgang Haas. In Dokumenten aus dem historischen Degussa-Archiv sind die Schadensmeldungen mitunter zu finden. Mit den paar wenigen beschädigten überirdischen Wasser- und Dampfleitungen und zwei hölzernen Geräteschuppen sei dieser Bombenabwurf ohne größere Folgen geblieben.

Der Grund dafür liegt für Haas erstens darin, dass die amerikanischen Luftbildauswerter eben davon ausgegangen seien, bei der Fabrikanlage handle es sich wegen ihrer Bauart um ein leicht brennbares "Oil Depot", ein Treibstofflager. Deshalb hätten die Amerikaner dafür ihre 55 Zentimeter langen, sechskantigen Feuerspucker mit einer vergleichsweise geringen Explosions- und Splitterwirkung eingesetzt. Diese hätten den vielen Gebäuden in Klinker- und Stahlbeton-Bauweise wenig anhaben können. Auch aufgrund des nassen Waldbodens sei, den historischen Wetterdaten zufolge, kaum etwas entflammbar gewesen. Zweitens geht aus Dokumenten hervor, die US-Fliegerflotte mit 74 Maschinen wäre durch die Attacke von vier deutschen Jagdflugzeugen etwas vom Kurs abgekommen. Der Großteil der abgeworfenen Brandbomben ging deshalb neben dem Werk nieder.

GERÜCHTE

Zu Anfang seiner Untersuchungen, erzählt Wolfgang Haas, hat ihm auch das Schrobenhausener Heimatforscherehepaar Barbara und Bernhard Rödig mit unwiederbringlichen Zeitzeugendokumenten tatkräftig unterstützt. Darauf konnte er seine Recherchen und Vor-Ort-Untersuchungen aufbauen. Und gemeinsam das eine oder andere Gerücht widerlegen.

Etwa das, dass während der Produktion ab Ende 1942 die zumeist jungen Zwangsarbeiter aus Frankreich, Italien und der Ukraine, etwa Dreiviertel aller Beschäftigten, schlecht behandelt worden seien. Das sei so nicht der Fall gewesen, sagt Wolfgang Haas. Und belegt es unter anderem anhand von Briefwechseln aus den 90er Jahren von Bernhard Rödig mit ehemaligen Arbeitern: Nach harter Arbeit durften sie das Werk verlassen. Sie erhielten auch Lohn und Lebensmittelkarten und die gleichen Kantinenmahlzeiten und Portionen wie der Rest der Belegschaft.

Auch das Gerücht ging zu jener Zeit und später umher, im Wald bei Schrobenhausen würde - obwohl der Machtapparat etwas anderes verbreitete - Sprengstoff oder fertige Waffen hergestellt werden. Oder gar Giftgas, nachdem es zeitweise "penetrant stinkende Gerüche" bis nach Steingriff und Drei Linden gegeben hatte. Und schneeweiße Kesselwagen am Hiag-Bahnhof von der Bevölkerung gesichtet wurden. Doch das schließt Wolfgang Haas kategorisch aus, denn es sei "ein Vorprodukt hergestellt worden, der eigentliche Sprengstoff Penta-Erythrit-Tetra-Nitrat entsteht nämlich erst, wenn man die Substanz in hochkonzentrierter Salpetersäure einleitet". Der Prozess der Nitrierung erfordere hoch spezialisierte Apparaturen, die es in Schrobenhausen niemals gegeben habe.

LUFTAUFKLÄRUNG

Trotz strengst verordneter Geheimhaltung durch das NS-Regime und bestmöglichster Tarnungsmaßnahmen aller Gebäude mit ihren erdbedeckten Flachdächern, die mit Gras, Stauden und Bäumen bepflanzt waren, hätten die Alliierten spätestens in den Endkriegsjahren vom getarnten Rüstungsstandort im Hagenauer Forst gewusst, ist sich Wolfgang Haas sicher. "Die US-Luftaufklärung hat mindestens hundert Lichtbilder über Schrobenhausen gemacht und ausgewertet", weiß er. Über die Nachbarstädte Pfaffenhofen und Aichach habe er an gleicher Fundstelle jeweils nur vier entdeckt.

In der schottischen Bibliothek NCAP, "The National Collection of Aerial Photography", fand Wolfgang Haas alte Schwarz-Weiß-Fotos der amerikanischen Luftaufklärung vom 30. Mai 1944 über Schrobenhausen. Darauf sind unter anderem die beiden oberirdischen Stahlbetonbehälter an der Steingriffer Waldseite zu sehen. Obendrein stieß der Langenmosener in den Archiven des US-Geheimdienstes CIA vor Ort auf weitere Dokumente über die Fabrik. Darin, erzählt er, würden amerikanische Piloten Mitte 1944 ausführlich in Protokollen berichten, dass "die komplette Tarnung des Werks Schrobenhausen trotz allen Aufwands völlig nutzlos" sei. In den Wintermonaten wurde dokumentiert, dass "verräterische Dampfschwaden aus dem Wald aufsteigen, einige Gebäudedächer sind immer schneefrei". Die genauen geografischen Koordinaten seien fixiert und bekannt gewesen. Außerdem hätten die Zwangsarbeiter die Möglichkeit zum Heimatkontakt per Post gehabt, die zwar von der Gestapo scharf zensiert wurde. Dennoch, meint Haas, seien auf diesem Wege "viele Mosaiksteinchen über Rüstungsprojekte" zu den Alliierten gelangt.

Gerade arbeitet Wolfgang Haas an der achten Auflage seines wissenschaftlichen Buches über die geheime Rüstungsfabrik im Hagenauer Forst. Mit seinen Recherchen ist er aber noch lange nicht am Ende. Selbst heute, nach so vielen Jahrzehnten, sagt er, kämen immer wieder neue Details ans Licht.

SZ

Fortsetzung am Dienstag

Thomas Floerecke