Kemmoden
Nur Disteln, Dornen und Meerrettich

Sie kamen vor knapp 200 Jahren: Geschichten der protestantischen Siedler von Kemmoden

03.11.2017 | Stand 02.12.2020, 17:16 Uhr

Foto: DK

Kemmoden (SZ) Geschichten protestantischer Siedler in Altbayern haben Lydia Thiel und Agnes Burghardt zusammengetragen - am Beispiel der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Kemmoden. Die Reformation feiert derzeit ihr 500-Jähriges, die Kemmodener Kirche ist fast 200 Jahre alt.

Das große Reformationsjubiläum war Anlass für die Chronistin Thiel aus Petershausen und die Medienwissenschaftlerin Burghardt aus Mittermarbach in der Vergangenheit zu graben. "Kemmoden ist ein kleiner Ort - aber einer mit einer der ältesten evangelischen Kirchen in Altbayern", sagt Thiel einführend. Das Gotteshaus mit Schulsaal hat die Zeit seit der Erbauung im Jahr 1829 fast unverändert überdauert.

Die Existenz des Dorfes geht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Kemmodens spezielle Geschichte beginnt aber erst in dem Augenblick, als protestantische Einwanderer in die Gegend kamen. Diese Veränderung für die von Zeitgenossen als rückständig bezeichneten Gegend, wurde von Burghardt und Thiel nachrecherchiert. Sie entdeckten dabei viele fast vergessene Ereignisse. Im Frühjahr haben sie ihre Erkenntnisse in einem Vortrag den Kemmodenern präsentiert. In der "Geschichte und Geschichten der ersten protestantischer Siedler" aus der Pfalz und dem Elsass zu blättern, ist anlässlich des Reformationstags aber brandaktuell.

Im Jahr 1517 wurden die Thesen von Martin Luther veröffentlicht. Aber erst 300 Jahre später begann eine Einwanderungswelle von Protestanten in das damals durch den Napoleonischen Krieg, Krankheit und Elend entvölkerte Altbayern. 1818 kamen die als "Überrheiner" bezeichneten Siedler aus dem Elsass und der Pfalz in die Bezirke Pfaffenhofen und Dachau. Sie übernahmen damals leer stehende Höfe und Weiler wie Lanzenried oder Kemmoden. Gut zehn Jahre später errichteten sie die evangelische Kirche auf einem Hügel bei Kemmoden. Gewachsen ist der Weiler seither kaum. Noch immer steht das Kirchlein weithin sichtbar, von wenigen Bauernhöfen umgeben nahe Jetzendorf, Scheyern und Petershausen. Heute gehört es zur Kirchengemeinde Kemmoden-Petershausen. Alle zwei Wochen werden dort Gottesdienste gefeiert. Für ein spirituelles Zentrum einer Bewegung ist es womöglich gut, dass es ein wenig versteckt liegt. Umso neugieriger machten sich Thiel und Burghardt auf die Suche nach den Geschichten, die hinter der Neubesiedlung zu finden sind.

"Es war 1819, da siedelten sich die mennonitischen Brüder Dettweiler aus dem Elsass auf dem Hammerhof bei Lanzenried an", heißt es in der Abhandlung von Thiel und Burghardt. "1820 kamen vier Familien aus der Rheinpfalz nach, zwei unierte und zwei katholische. Sie kauften in Kemmoden zwei Güter an." Im Herbst folgten eine weitere evangelische und eine mennonitische Familie nach - und in den Jahren darauf noch mehr.

Sie kamen auf Wunsch von Kurfürst Maximilian IV., der - mit einer Protestantin verheiratet - zum Wiederaufbau des Bayernlands tüchtige Landwirte anlocken wollte. Diese kamen "mit den kühnsten Hoffnungen" hierher, wie es Thiel schreibt. "Aber sie hatten nicht die Begünstigungen der Regierung wie ihre Landsleute im Donaumoos. Sie konnten keine eigenen Dörfer gründen, nicht so zusammenleben, wie es ihnen vorschwebte, sondern mussten sich verteilen. Fleißig, nüchtern, sparsam und klug bewährten sie sich auch hier. Verschiedene Beispiele beweisen aber, dass es ihnen trotzdem nicht immer gut ergangen ist." Ein gewisser Johann Georg Köhler klagte wehmütig, dass er zeitlebens ganz sparsam und kümmerlich gelebt, aber nichts Gutes empfunden habe.

Mit dem Anwachsen der protestantischen Bevölkerung wuchs der Wunsch nach einer Schule und einer Kirche. Bis zum Spätherbst 1829, also bis die Gemeinde einen eigenen Seelsorger hatte, kamen von Zeit zu Zeit Geistliche aus München nach Kemmoden. "Im Übrigen half man sich eben, so gut es ging", meint die Chronistin.

Christian Krehbiel war erst elf Jahre alt, als er in die Gegend einwanderte. Die Familie hatte seinerzeit alles verkauft, um in Bayern eine neue Heimat zu finden. Die Karawane führte die Familie durch Mannheim, Heidelberg, das Neckartal entlang, durch Heilbronn, Stuttgart, Ulm und Augsburg bis nach Kemmoden. "Hier wurde die ganze Familie höflich aufgenommen", schrieb er in seinen Erinnerungen.

Barbara Ruth-Strohm, eine Bäuerin aus Harreszell, ergänzte: "Als wir das Land übernahmen, war es heruntergekommen, ohne Zäune, arg verwildert. Im ersten Jahr wuchsen nur Disteln, Dornen und Meerrettich. Das Wohnhaus musste gründlich renoviert werden, bevor wir darin leben konnten. Später aber waren das Land und die Gebäude in hervorragendem Zustand."

Im März 1850 begann sie, eine Scheune zu bauen. Die Pferde und die Kühe erkrankten bis dahin immer wieder an Lungenentzündung. Einige verendeten, andere musste sie mit Verlust verkaufen. "Um die Sache noch zu verschlimmern, hatten wir im Juli einen schrecklichen Hagelsturm, der das Getreide zerstörte und viel zu unserem Elend beitrug." Kurz danach starb ihre Mutter. Der Pfarrer zitierte in seiner Grabansprache aus der Bibel. "Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir."

Der Tod war für die Siedler in den ersten Jahren ständiger Begleiter. Am 2. Mai 1824 starb nur vier Jahre nach seiner Einwanderung Franz Krämer im Alter von 39 Jahren. Einen kommunalen Friedhof gab es damals nicht, der katholische kam für den Protestanten nicht infrage. Für Andersgläubige gab es nur einen Platz außerhalb der Friedhofsmauer - neben den Selbstmördern. Krämer wurde auf einem Acker beigesetzt.

In Kemmoden gab es bis ins 18. Jahrhundert hinein eine Privatkapelle. "An ihrer Stelle wurde eine Bier- und Tanzstube errichtet", schrieb Pfarrvikar Seyferth im Jahr 1843. Am Ende befand sich die Kapelle im Besitz der eingewanderten Protestanten. Sie nutzten diese für ihre Gottesdienste und als Schule. 1836 heißt es im Pfarrbericht: "Für die Anstellung eines ständigen Pfarrvicars, der auch das Amt des Schullehrers versehen musste, wurde gesorgt - und ihm die Seelsorge der in Pfaffenhofen, Dachau, Aichach, Schrobenhausen, Freising und Moosburg zerstreut wohnenden Evangelischen übertragen."

Jetzendorf wäre wohl günstiger gewesen, schreibt Thiel. Viele Gründe, nicht immer stichhaltige, seien vorgebracht worden, um ein evangelisches Zentrum im "protestantenfreien Jetzendorf" zu verhindern. Nach langem Streit wurde Kemmoden als Bauplatz für Kirche und Schule gewählt. "Weil es sich dort machen ließ", hieß es im Pfarrbericht. "Evangelische Familien schenkten den Bauplatz, fünf Tagwerk Garten, Akker und Wiesland her." Der Grundstein wurde am 15. Juni 1828 gelegt.

Erster Vikar und Lehrer war Georg Bauer aus Nürnberg. Anfangs wurden bis zu 37 Schüler unterrichtet: im Lesen, Rechnen und Schreiben, in Religion und im Singen - "wegen des großen Einflusses auf das Gemüt der Kinder". Trotzdem waren die Zeugnisse keineswegs vorzüglich. Im Gegenteil: So manche Zensur lautete damals "hinlänglich" oder gar "nothdürftig". Und auch das Betragen war "nicht immer tadelfrey".