Schrobenhausen
Der vergessene Kyrill

27.12.2019 | Stand 23.09.2023, 9:58 Uhr
Dieser Mann hatte Patente für wegweisende Erfindungen im Dutzende: Gottfried Schreitmüller, hier mit Gattin Margarethe, in den 40er Jahren. War er eine Art Thomas Edison, ein Elon Musk seiner Zeit? Kyrill das Vergaserpferd war eine seiner eher unbedeutenden Arbeiten, die es aber zu weltweitem Ruhm schaffte. Rechts die zweite und dritte Generation mit Heinz L. und Gunther Schreitmüller (v.r.). −Foto: privat

Schrobenhausen - Am Anfang stand ein Hilferuf: Fast fünf Jahre lang versuchten zwei Münchner Ingenieure, die Geschichte eines kleinen Gimmicks zu rekonstruieren, das vor 65 Jahren auf den Markt kam, von Schrobenhausen aus weltweit exportiert wurde und dann wieder verschwand. Vor einigen Wochen erreichte die Anfrage nun unsere Redaktion. Das ist die Geschichte von Kyrill, dem Vergaserpferd.

Man kennt diese kleinen Spielzeugpferdchen, deren Glieder von Schnüren zusammengehalten werden. Drückt man unten auf einen im Boden versenkten Knopf, fällt das Pferd in sich zusammen. Lässt man ihn los, richtet es sich wieder auf. Eine Schrobenhausener Firma machte sich dieses Prinzip zunutze und machte daraus einen frühen Öko-Warner für Autos. Kyrill wurde auf dem Armaturenbrett installiert, mit dem Ansaugrohr verbunden und gab Auskunft über die Wirtschaftlichkeit der Fahrweise. Hergestellt von den Neho-Werken Schrobenhausen.

Der GeniestreichIm September 1954 wurde Kyrill auf der Nürnberger Erfinderausstellung präsentiert. Rundfunk, Presse, Wochenschau und Fernsehsender des In- und Auslands fielen über Kyrill her. Nach der Präsentation auf der St.-Erik-Messe in Stockholm und auf dem Pariser Autosalon kam das Schrobenhausener Unternehmen mit der Produktion kaum noch hinterher. Exportiert wurde bis nach Australien und Neuseeland, nach Mexiko und Kolumbien. "Mit seinem klugen Pferdeverstand vereinigt er ein Optimum an Präzision in sich", hieß es damals in der Zeitschrift "auto, motor und sport".

Und heute? Kyrill ist verschwunden. Verschollen. Vergessen. Man kann in Schrobenhausen fragen, wen man möchte - von den Neho-Werken hat so gut wie niemand je etwas gehört. Vom Inhaber, G. Schreitmüller schon. Ja, da gab es jemanden. Irgendwo in der Nähe des Gefängnisturms in der Altstadt soll die Familie gelebt, und später am Königslachener Weg gebaut haben. Wie sein Vorname lautet? Puh. Da setzt die Erinnerung auch schon wieder aus.
Wer weiß etwas?Als unsere Zeitung vor einigen Wochen einen Aufruf startete, tröpfelten die Informationen über Kyrill, das Vergaserpferd aus Schrobenhausen , in geradezu homöopathischen Dosen ein. Schreitmüller habe einen chemischen Betrieb geführt, der nach dem Krieg Backpulver herstellte, meinte jemand. Dieser vornamenlose Schreitmüller soll von seinem Keller aus alle möglichen Produkte vertrieben haben, Türschlossenteiser und Ähnliches. Das wusste ein anderer. Nicht ganz, meinte wieder ein anderer Anrufer, die Firma Schreitmüller habe Kurvenhebel und -keile für Strickmaschinen hergestellt, also Geräte, die immer die gleiche Bewegung machen. Sozusagen eine Art frühe Roboter.

Ein weiterer Anrufer glaubte zu wissen, dass die Neho-Werke Kopiermaschinen, orthopädische Nackenkissen für Autositze, Wundschutz in Tuben und Autoshampoo herstellten und vertrieben.

Passt das zusammen? Klingt komisch, aber: Ja! Das war wohl so. Die Anrufer haben wohl alle Recht!

Wer war G. Schreitmüller?Dieser G. Schreitmüller muss Dutzende und Aberdutzende Patente in der Nachkriegszeit angemeldet haben. Wie aus spärlichen Unterlagen hervorgeht, scheint Schreitmüller die weltweit ersten beschlagfreien Windschutzscheiben für Autos erfunden zu haben, einen Webstuhl, eine Kopiermaschine, Verfahren für heizbare Heckscheiben, Einzelradaufhängungen, für eine hydraulische Talfahrtbremse für Autos, für verstellbare Ruhesitze, für Abschmierfette, Spindelantriebe, Zigarettenherstellung und und und. Für nicht wenige dieser Themen hatte jener G. Schreitmüller Weltpatente. Wer war dieser Mann? Ein verkanntes Genie? Ein Schrobenhausener Howard Hughes oder ein Elon Musk? So viel lässt sich sagen: Er scheint ein Eigenbrötler gewesen zu sein. Ein Mann, der für seine Arbeit lebte.

Licht im DunklenEtwas Licht ins Dunkle brachten schließlich drei ehemalige Haushälterinnen der Schreitmüllers, die noch allesamt in der Region leben, die aber die Öffentlichkeit scheuen. Gottfried und Margarethe Schreitmüller begründeten demnach seinerzeit das Unternehmen. Dazu gehörten die Neho-Werke, aber auch der Neon-Versandhandel, der vielleicht erste funktionierende Direktversand, noch vor Otto. Die Schreitmüllers hatten einen Sohn, Heinz Ludwig. Der studierte wohl in Berlin Maschinenbau, später zog er nach Berg am Starnberger See, und zwar in ein Haus, das dann zwei Legenden von ihm übernahmen: Schlagersänger Fred Bertelmann und dessen Gattin, die berühmte BR-Moderatorin und Schauspielerin Ruth Kappelsberger. Die beiden starben kurz hintereinander im Jahr 2014; nach unseren Recherchen lebten die beiden bis zum Schluss im Schreitmüller-Anwesen.

Josef Danner, der lange bei der Stadt beschäftigt war, erinnert sich noch vage an Gottfried Schreitmüller, beschreibt ihn als verschlossenen Mann, der keine Nähe zu anderen suchte. In Schrobenhausen hatte er kaum Freunde. Was man am ehesten von ihm sah, war die Staubwolke, wenn er mit seinem dicken Mercedes über den Königslachener Weg brauste, der damals noch nicht geteert war. "Ein sehr rasanter Autofahrer", erinnert sich Josef Danner, "wirklich sehr rasant."

Vater Gottfried Schreitmüller starb, wie weitere Recherchen ergaben, am 13. Januar 1960. Das war der Zeitpunkt, als Sohn Heinz (geboren am 3. Januar 1928) die Firma übernahm. Erst Ende der 60er-Jahre muss er mit seiner Familie von Berg am Starnberger See nach Schrobenhausen umgesiedelt sein.

Das Ende der Firma1976 zerbrach nach unseren Recherchen die Beziehung zu seiner Frau. Heinz Schreitmüller wanderte in die USA aus, um dort ein neues Leben zu beginnen - zu Hause zerbrach alles. Die Schreitmüller'schen Firmen gingen zu Bruch, diese Geschichte endete schließlich mit einem Konkurs.

Erst Jahre später, am 11. November 1980, waren alle Rechtsfragen geklärt, und die Firmen von Gottfried sowie Heinz L. Schreitmüller erloschen für immer. Ob noch etwas von den Schreitmüller'schen Originalgebäuden steht, ließ sich bis zum heutigen Tage nicht klären. Irgendwo im Bereich der späteren Metzgerei Helfer am Königslachener Weg müssen sie sich befunden haben, ein gutes Stück östlich der Straße.

Heinz Schreitmüller aber baute sich in den USA eine neue Firma und ein neues Leben auf. In den Nullerjahren erkrankte er schwer, und erst da flog auf, dass er sich wohl all die Jahre illegal in den USA aufgehalten haben muss. Mit nichts am Leib außer seiner Kleidung kehrte er schließlich nach Deutschland zurückgekehrt sein, wo er am 2. Dezember 2010 verstarb.

GefundenIn der Bekanntmachung zur Löschung der Firmen tauchte der Name Ulrike Schreitmüller auf. Dazu gibt es im Internet, das bekanntlich nichts vergisst, einen Treffer: ein Fußpflegesalon in Uffenheim. Ein Telefongespräch ergab, dass der Salon längst verkauft ist. Aber die heutige Eigentümerin erinnerte sich an die ehemalige Vorbesitzerin, und sie wusste auch, wo sie nach der Geschäftsübergabe hinzog. Dieser Hinweis führte schließlich zu Gottfried Schreitmüllers Enkel, Gunther.

"Kyrill?", fragt der, einigermaßen überrascht am Telefon. Den Namen Kyrill hatte er wohl eine ganze Weile nicht mehr gehört. "Klar kenne ich Kyrill. Ich habe eine Kiste im Regal, da sind noch einige drin." Vor dem nächsten Telefonat hatte er schon nachgeschaut: ein paar wenige hat er noch daheim.

Gunther Schreitmüller ist IT-Unternehmer, eines von drei Kindern aus der Ehe von Heinz und Ulrike Schreitmüller, die Mitte der 70er-Jahre so tragisch zerbrach. Er war 1967 noch in Berg am Starnberger See zur Welt gekommen, einige Schuljahre verbrachte er dann sogar in Schrobenhausen, ehe er zusammen mit seiner Mutter wegzog, nachdem sich der Vater in die USA abgesetzt hatte.

Der Kreis schließt sichInzwischen sind die beiden Münchner Ingenieure Wolfgang Hildebrand und Thomas Hanna mit Gunther Schreitmüller in Kontakt getreten, der noch über etliche Unterlagen und Konstruktionszeichnungen zum Vergaserpferd Kyrill, das übrigens international unter dem Namen Cyrillo vertrieben wurde, verfügt. Jetzt, wo sich die Beteiligten gefunden haben, kann es gut sein, dass Kyrill, der Verkaufsschlager aus den 50er- und 60er-Jahren, zumindest in einer Kleinserie für Oldtimerfreunde neu aufgelegt wird. Eine Art später Nachlass eines Mannes, über den bis heute nur sehr wenig in Erfahrung zu bringen ist, der aber ein wildes, buntes, kreatives Leben geführt haben muss, und der, angesichts all seiner Erfindungen, ein Thomas Edison seiner Zeit gewesen sein dürfte: Gottfried Schreitmüller aus Schrobenhausen.

Möglich, dass er eine Art Phantom bleibt. Seine Familie hat nicht ein einziges Bild von ihm.

SZ

Mathias Petry