Schrobenhausen
Das rote Bayern oder von Toten auf Urlaub

Michael Lerchenbergs Lehrstunde(n) zur Revolution

20.11.2018 | Stand 23.09.2023, 5:01 Uhr
Es war einmal die Revolution oder Eisner gegen alle - Michael Lerchenberg und die Revolutionskapelle erinnern mit dem "Spartakusmarsch" an 100 Jahre Revolution und Räterepublik in Bayern.  −Foto: Erdle

Schrobenhausen (SZ) Revolution ist schwerer als man denkt.

Diese Erkenntnis gewannen sowohl die Begründer des Freistaats vor 100 Jahren wie auch das Publikum im Musikschulpavillon bei Michael Lerchenbergs umfangreichem Leseabend "Revolution in Baiern" am Sonntag.

Michael Lerchenberg widmet sich in seinem aktuellen Leseprogramm den 175 Tagen der Revolution 1918/19, den "wildesten, aufregendsten und grausamsten der bayerische Geschichte". Und er tut dies, indem er in Augenzeugenberichten die damals Handelnden oder am Geschehen Beteiligten, abwechselnd Befürworter, Gegner oder bloße Beobachter, zu Wort kommen lässt.

Von der Demonstration auf der Münchner Theresienwiese am 7. November 1918 und der Proklamation des Freistaates Bayern bis zur Ermordung von Ministerpräsident Kurt Eisner am 21.2.1919 reicht die Darstellung vor der Pause, der zweite Teil umfasst die anschließenden Wirren der im April ausgerufenen Räterepublik und deren brutale Niederschlagung durch die "weißen" Freikorps.

Es entsteht ein Panoramabild aus vielen Einzelsplittern, das vom Königshaus, wo man sich hauptsächlich Sorgen um die Unterhosen Ludwigs III. macht, und lapidar Telefonanrufe registriert, "es wäre jetzt Revolution", bis zum erschütternden Schlusswort Eugen Levinés im Hochverratsprozess reicht: "Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub. "

Mit wandelbarer Stimme gelingt es Lerchenberg, sein großes Personarium unterschiedlich zu gestalten. Prächtig trifft er etwa den gewollt einfachen Tonfall Oskar Maria Grafs, sein Thomas Mann, der sich sarkastisch über die regierenden "Polit-Dilettanten" auslässt, klingt dagegen mehr wie ein Hamburger Marineoffizier. In der umfassenden Vielfalt liegt natürlich gleichzeitig eine Gefahr, denn aus den Dokumenten prasselt eine Informationsmenge, die zuhörend verarbeitet sein will. Das erfordert gehörige Konzentration.

Doch wie in einer Gemäldegalerie: nach zu vielen Sälen lässt sich auch das beste Bild nur noch oberflächlich erfassen. Eine "Revolutionskapelle" um Simone Lautenschlager (Klarinette), Sabrina Walter (Harfe), Ferdinand Schramm (Trompete) und Martin Holzapfel (Tuba) trägt u.  a. mit Vertonungen von Gedichten des Revolutionärs Erich Mühsam zur Auflockerung des Abends, bei; angesichts der Textmenge hätte der musikalische Anteil durchaus großzügiger ausfallen dürfen.

Am wirksamsten blieben erstaunlicherweise die harmlos-satirischen Couplets des Weiß Ferdl im Gedächtnis: bayerische Gemütlichkeit, die selbst den Bürgerkriegs-Schrecken noch ins Behäbig-Unverbindliche wendet. Bayerischstunde 1918/19 - ein so lehr- wie materialreicher, im Doppelsinn erschöpfender Abend. Lerchenberg liefert eine umfassende Darstellung der Ereignisse aus vielfach kontrastierenden Blickwinkeln, objektiv und doch mit eindeutigen Hinweisen auf die zwiespältige Rolle der damaligen SPD bis zur noch 1969 geäußerten CSU-Stadtrats-Ansicht, München habe keine Veranlassung, Kurt Eisner zu ehren, und gipfelnd im warnenden Schlussfazit, die Politik scheine seit 1919 "auf dem rechten Auge blind". Starker Applaus des nach über zweieinhalb Stunden beeindruckt-mitgenommenen Publikums.

Florian Erdle