Aichach
Von der Aichacher Praxis an die serbische Grenze

Ärztin Nikola Hutterer aus Kühbach versorgt als Mitglied von Humedica Flüchtlinge auf der Balkanroute

10.11.2015 | Stand 02.12.2020, 20:34 Uhr

Bis zu 150 Patienten versorgte die Kühbacher Ärztin Nikola Hutterer mit Humedica täglich an der serbischen Grenze. Dieser syrische Junge ist gestürzt. - Foto: Humedica, Astrid De Kuijer

Aichach (SZ) Die Bilder der Flüchtlingsströme auf der Balkanroute sind allgegenwärtig. Viele Deutsche nehmen Anteil am Schicksal der Fliehenden, helfen mit Spenden. Nur die wenigsten begeben sich allerdings in die Grenzgebiete, in denen Tausende von Menschen ankommen und auf Hilfe hoffen. Ärztin Nikola Hutterer aus Kühbach hat sich der Hilfsorganisation Humedica angeschlossen und in der serbischen Grenzstadt Preševo Flüchtlinge versorgt.

Nikola Hutterer ist Ärztin im Aichacher Zentrum für Allgemeinmedizin an der Sudetenstraße. Sie bewirbt sich bei Humedica, einer Hilfsorganisation aus Kaufbeuren, die unbürokratisch in Not- und Krisensituationen hilft – und sich auch für die Flüchtlinge auf der Balkanroute engagiert. Nach einem einwöchigen Einsatztraining Anfang des Jahres kann auch Nikola Hutterer die Organisation unterstützen. Ende September kommt die Anfrage, woraufhin sich die 50-jährige Ärztin zusammen mit vier weiteren Humedica-Helfern auf den Weg ins serbisch-mazedonische Grenzgebiet macht. Das Humedica-Team besteht aus zwei Ärztinnen, einer Krankenschwester und zwei Koordinatoren.

Da in Preševo die Registrierung aller Flüchtlinge stattfindet, die über Österreich weiter in den Westen und Norden Europas reisen möchten, ergibt sich eine Nadelöhr-Situation. Bis zu 10 000 Flüchtlinge kommen täglich dort an. In eine Stadt mit rund 35 000 Einwohnern. Ihr Ziel: das Registrierungslager mit dem bezeichnenden Namen „One stop centre“, von wo aus die Flüchtlinge mit Bussen nach Sid, das nächste Übergangslager entlang der Balkanroute, gebracht werden.

Preševo ist nicht gewappnet für Tausende mittellose Menschen täglich. Die Warteschlange vor dem Registrierungslager ist Hunderte Meter lang. Die Menschen darin sind traumatisiert, unterkühlt und hungrig. Bei der Eröffnung der Registrierungsstelle im Juli wurde damit geworben, dass den Ankommenden Lebensmittel und eine medizinische Versorgung zur Verfügung stehe. Doch dieses Angebot erreicht die Flüchtlinge erst sehr spät, wie Nikola Hutterer im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt. Zum einen direkt nach der Ankunft der Flüchtlinge von Mazedonien an einer Zählstation – wo allerdings keiner der Flüchtlinge bleibt, weil er sich nicht registrieren lassen kann –, zum anderen in der Registrierungsstelle, die die Flüchtlinge aber erst nach stunden-, teilweise tagelangem Anstehen erreichen. Alles, was von staatlicher Seite dort angeboten wird, sind vier mobile Toilettenhäuschen. Polizisten sollen für Ruhe und dafür sorgen, dass die Wartenden in einem abgesperrten Bereich bleiben. „Das sind humanitäre Katastrophen, die sich dort abspielen“, fasst Nikola Hutterer die Eindrücke an der serbischen Grenze zusammen. Sie berichtet von Polizisten, die sich bestechen lassen, Busse, die nicht rund um die Uhr fahren, damit auch die Taxis ihr Geld an den Flüchtlingen verdienen, und Taxifahrern, die ahnungslose Flüchtlinge abzocken oder sie gar irgendwo auf Feldwegen aussetzen. Es ist bereits das zweite Team von Humedica, ansonsten gibt es zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine andere medizinische Unterstützung vor Ort. Kurz darauf treffen glücklicherweise die „Médecins Sans Frontières“ („Ärzte ohne Grenzen“) und „Volunteers“ (freiwillige Helfer) ein. 19 Tage ab Anfang Oktober ist Nikola Hutterer mit vor Ort. Victoria Wenz-Tappe von Humedica, die den Einsatz koordiniert, schreibt einen Blog über die Erlebnisse, in dem sie auch von der Ankunft des Hilfsteams berichtet: „Es ist acht Uhr abends, dunkel und kalt. Unser Team ist noch nicht ganz aus dem Auto gestiegen, als auch schon die ersten Patienten auf uns zu kommen. Astrid, unsere Krankenschwester, beruhigt eine Frau, die weinend in ihren Armen liegt. Sie ist seit Tagen unterwegs und völlig erschöpft.“

Das Team stellt sein Zelt am Ende der Schlange der wartenden Flüchtlinge auf, damit ankommende Hilfesuchende sie sofort sehen. Sie drehen aber auch Runden und helfen den Wartenden. Denn einige davon verlassen die Kräfte nach tagelangem Warten im Freien, vor allem schwangere Frauen und alte Menschen. Einige kollabieren in der Menge, Hutterer und die anderen Helfer führen Gespräche mit der Polizei und dem Militär, damit diese Menschen ohne Anstehen zur Registrierung kommen und versorgt werden.

So zum Beispiel in diesem Fall: „Kurz vor Mitternacht entdecken unsere Ärzte Barbara und Nikola einen völlig unterkühlten Zweijährigen. Sein Vater erklärt uns, dass er seit seiner Geburt behindert ist und unter Epilepsie leidet. Er hat ihn von Syrien bis hierher getragen, mit nichts als einer Decke, die nun nach dem Regen ganz nass ist. Die Hände und Füße des Jungen sind eiskalt und er wimmert leise vor sich hin. Der Vater erklärt uns, dass seine Medikamente fast leer sind.“ Dank Nikola Hutterer und ihrer Kollegin bekommt der Junge Medikamente, neue Kleidung und eine Decke, sein Vater und er können mit dem Bus weiterfahren.

Allen anderen, die nicht schnell und unbürokratisch zur Registrierung dürfen, hilft das Team mit medizinischer Erstversorgung, heißen Getränken und Snacks. Zusammen mit den freiwilligen Helfern organisieren sie Regenjacken und -umhänge. Als diese ausgehen, helfen sie den Flüchtlingen mit Planen aus. „Die medizinische Leistung war gar nicht so groß, es ging vielmehr darum, für die Menschen da zu sein“, erklärt Nikola Hutterer.

Hilfe und Beistand suchen in den Tagen, an denen sie Teil des Humedica-Teams ist, unter anderem Kinder, die unter Durchfall und Erbrechen leiden, Schwangere mit Blutungen, Flüchtlinge mit Blasen und offenen Wunden an den Füßen, unterkühlte und erkältete Menschen. „Dieses Leid zu sehen war sehr belastend“, gibt die Kühbacher Ärztin zu verstehen. Die Menschen kommen vor allem aus Syrien und Afghanistan, einige auch aus Pakistan und dem Iran. Ein paar wollen nach Schweden, die meisten aber nach Deutschland.

In einem leerstehenden Haus nahe der Grenze ist das Ärzteteam untergekommen. Alle schlafen gemeinsam in einem Raum. Humedica arbeitet abends und nachts, die „Ärzte ohne Grenzen“ kümmern sich tagsüber um die Flüchtlinge. Es vergeht kein Tag, an dem die Szenen, Nikola Hutterer und ihre Kollegen nicht zu Tränen rühren, berichtet die Ärztin.

Nach ein paar Tagen richten sich die Ärzte eine Station in einem der leerstehenden Gebäude an der Hauptstraße Preševos ein. „Bis zu 150 Menschen mussten wir an einem Tag versorgen“, erinnert sich Nikola Hutterer. Ihr Kollege Christian Vietz spricht im Blog von bis zu 1500 Menschen, die vor der Station auf eine Behandlung warten.

In einer Nacht um circa zwei Uhr morgens machen Wartende die Ärzte auf einen Mann in der Warteschlange vor der Registrierungsstelle aufmerksam. Muhanads Füße sind von den Strapazen der langen Reise und von Brandnarben gezeichnet, die Unterschenkel zeugen von einer Hauttransplantation. „Er erzählte uns von einem Luftangriff, der ihn an einem Nachmittag vor etwa sieben Monaten traf (...). Um dieser ständigen Gefahr zu entkommen, ist er zusammen mit seiner Frau und seinen zwei und fünf Jahre alten Kindern seit 15 Tagen ohne Pause unterwegs“, berichtet der Humedica-Blog. Die Flüchtlinge waren sehr erschöpft, doch zeigten sich immer dankbar und freundlich, erzählt Hutterer. „Manchmal war die Dankbarkeit so groß, dass sie schon beschämend war.“

Die Arbeit zehrt auch bei den Helfern an den Kräften. Nikola Hutterer wird selbst krank und muss sich einen Tag Pause nehmen, an schlafen ist kaum zu denken. Die Ärztin würde einen solchen Einsatz dennoch wiederholen, vielleicht Anfang des kommenden Jahres.