Versager Bach?

02.04.2020 | Stand 23.09.2023, 11:28 Uhr
Sven Güldenpfennig
  −Foto: oliver konze

Thomas Bach hat sich im Timing verschätzt.

 

Im politischen Handeln ist das normal. Denn Politiker müssen nach Wahrscheinlichkeiten entscheiden. Könnten sie sich nach Gewissheiten richten, brauchte man sie nicht. Gewissheiten treten ein ohne Zutun von Menschen, die so anfällig für Irrtümer wie Fehler sind wie für das Corona-Virus.

Kaum hatte Bach verkündet, das IOC werde in vier Wochen - die Corona-Notfallprogramme waren vorerst bis zum 6. April terminiert, die Olympischen Spiele in Tokio sollten am 24. Juli beginnen - über eine mögliche Absage oder Verschiebung der Spiele entscheiden, brachen reflexartig ein Sturm der Empörung über den "Versager" und eine Welle von Spekulationen los über die Gängelbänder finsterer Mächte, die durch seinen Nasenring gezogen seien. So als gehörte er in dieselbe Schublade wie die Erzschurken Bolsonaro, Trump, Johnson oder Putin, die verantwortungslos lange aus durchsichtig-egoistischen politischen Interessen die Corona-Gefahr kleinzureden versuchten.

Auf das Nächstliegende kamen die Kritiker in ihrem gewohnheitsmäßigen Bach-Bashing nicht: dass er nämlich gute Gründe für seine Fristsetzung gehabt haben könnte. Zum einen gehört er einer Generation von Olympioniken an, die in ihrer weiteren Tätigkeit für den Sport unauslöschlich geprägt sind vom Trauma des Olympia-Boykotts von 1980, das eine ganze olympische Generation um ihre sportlichen Chancen gebracht hat. Zum anderen steht das Spitzenleistungshandeln von Olympiakandidaten unter anderen Bedingungen als das von anderen "Bühnenkünstlern": Die können ihre Auftritte ohne unzumutbaren Aufwand - von finanziellen Verlusten abgesehen - auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, während Sportler unter höchstem psychophysischem Einsatz und strengem Timing "auf den Punkt" genau vorbereiten müssen, wenn sie im entscheidenden Wettkampf konkurrenzfähig sein sollen. Und schließlich: Natürlich dürfte auch der Respekt vor dem Riesenaufwand des Ausrichterlandes Bach dazu veranlasst haben, Japan nicht vorzeitig vor die vollendete Tatsache einer IOC-Entscheidung zu stellen.

Also: Versager Bach? Ja - indem er sich im Bewusstsein seiner sportpolitischen Verantwortung einer vorzeitig erscheinenden Entscheidung versagen wollte. Nachdem der Entscheidungsdruck auch vonseiten verunsicherter Sportler, Verbände und sogar erster Länder wie Kanada früher und nachdrücklicher eingesetzt hat, als man angesichts der bis Ende Juli verbleibenden Zeitspanne und der bis dahin eintretenden Entwicklungen erwarten konnte, hat Bach für das IOC und in Absprache mit der japanischen Regierung die Verschiebung der Spiele auf 2021 bereits vorzeitig entschieden. So wie viele andere Politiker in Zeiten von Krise und Beschleunigung auch. Politisches Versagen geht anders. Manche würden es Besonnenheit nennen.

PK

Dr. Sven Güldenpfennig (76) war Professor für Sport- und Kulturwissenschaft in Berlin und Hamburg. Seit 1970 Lehr-, Forschungs-, Publikations- und Vortragstätigkeit. Unter anderem rund 40 Buchpublikationen. Güldenpfennig half 2018/ 19 als Deutschlehrer am Schyren-Gymnasium in Pfaffenhofen aus. Er lebt jetzt im Ruhestand in Vohburg und beobachtet nach wie vor sehr genau die sportpolitischen Entwicklungen. Foto: Konze

Sven Güldenpfennig