Ingolstadt
Motiv: Wut und Enttäuschung

Prozess um Geiselnahme im Jugendamt hat begonnen - 29-jähriger Täter gibt alles zu

19.09.2018 | Stand 23.09.2023, 4:08 Uhr
Großes Medieninteresse: Der hier unkenntlich gemachte Pfaffenhofener Geiselnehmer und sein Verteidiger Jörg Gragert. −Foto: Heimerl

Ingolstadt/Pfaffenhofen (PK) Prozessauftakt zur Pfaffenhofener Geiselnahme vor dem Ingolstädter Landgericht: Der 29-jährige Mann, der am 6. November vorigen Jahres über Stunden eine Mitarbeiterin des Pfaffenhofener Jugendamts mit einem Messer bedroht hat, um seine Tochter aus der Obhut einer Pflegefamilie "freizupressen", hat die Tat vor der 5. Strafkammer unumwunden zugegeben. Als Motiv gibt er Wut und Enttäuschung über das Vorgehen der Behörde an.

Der Vorfall hatte Pfaffenhofen im Herbst des vergangenen Jahres den bislang wohl größten Polizeieinsatz seiner Geschichte beschert. Über 300 Beamte hatten die Außenstelle des Landratsamts am Hofberg abgeriegelt, in der der gebürtige Kasache einer 31-jährige Sachbearbeiterin nach einem erfolglosen Gespräch die Klinge eines Taschenmessers an den Hals gehalten hatte. Erst nach fünf Stunden hatten als Ärzte verkleidete Polizisten den bereits früher psychisch auffälligen Mann, der seit 1996 in Deutschland lebt, überwältigen und festnehmen können.

Der geständige Täter befindet sich seitdem in einem psychiatrischen Krankenhaus. Im Prozess, der auf vier Tage angesetzt worden ist, geht es um die Frage, ob er per Beschluss langfristig dort untergebracht werden muss. Der Mann machte zum Auftakt einen durchaus vernünftigen Eindruck, schilderte nüchtern den Ablauf der Tat, antwortete auch bereitwillig auf Fragen.

Die Strafkammer hörte als erste Zeugen die Mutter des gemeinsamen Kindes, um das es auch bei der Tat ging, und die Schwester des Angeklagten an. Beide sagten aus, dass der Aussiedler schon länger psychische Probleme hat, jedoch nie extrem auffällig geworden sei. Die Tat können sich die beiden Frauen nur als Kurzschlusshandlung erklären. Die frühere Freundin: "Im Endeffekt hat er sich sein Leben verbaut und nichts erreicht."

In dem Verfahren soll die Vorgeschichte der nach wie vor planlos und irgendwie auch dilettantisch wirkenden Geiselnahme aufgehellt werden - es geht aber auch um Opferschutz. So wird die seinerzeit bedrohte Sachbearbeiterin, die durch die Messerklinge immerhin leicht am Hals und an der rechten Hand verletzt worden war, nicht vor Gericht aussagen müssen. Die Frau leidet nach Angaben der gestern gehörten Jugendamtsleiterin nach wie vor unter den psychischen Folgen der Tat, kann ihre frühere Tätigkeit nicht mehr ausüben und wird inzwischen an anderer Stelle eingesetzt.

Die Strafkammer wollte eine Entscheidung über eine Vernehmung der Hauptzeugin vom Verfahrensverlauf abhängig machen, wird aber nun im allgemeinen Einverständnis darauf verzichten. Ärztliche Gutachten raten davon ab und auch Verteidiger Jörg Gragert hat signalisiert, dass sein Mandant durch sein Geständnis auch eine erneute Belastung des Opfers durch eine Konfrontation vor Gericht vermeiden will. Das dürfte dem Mann sicher Pluspunkte bei der Urteilsfindung einbringen. Das Opfer tritt allerdings als Nebenklägerin auf und lässt sich im Verfahren durch eine Anwältin vertreten.

Wie nun aber kam der Angeklagte darauf, sich mit Gewalt Hoheit über ein Sorgerechtsverfahren verschaffen zu wollen, über das bereits längst nicht mehr das Jugendamt, sondern das Familiengericht zu entscheiden hatte? Hier muss die Strafkammer tief in die Vorgeschichte einsteigen, und die ist von gesundheitlichen Problemen beider Eltern des kleinen Mädchens gezeichnet, auf dessen Wohlergehen es sicher allen Beteiligten ankam - jedoch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Das heute dreienhalbjährige Kind ist nach wie vor bei einer Pflegefamilie untergebracht. Die Maßnahme des Jugendamts war notwendig geworden, weil die in Pfaffenhofen lebende Mutter aufgrund einer psychischen Erkrankung und offenbar nicht gesicherter medikamentöser Behandlung nicht in der Lage schien, sich hinreichend um das kleine Mädchen zu kümmern. Der in Ingolstadt wohnende Vater war den Vorschriften nach nicht für das Sorgerecht in Frage gekommen, weil das von Hartz-IV-Leistungen lebende Paar nicht verheiratet war und auch nicht in einer festen Gemeinschaft lebte. Zudem lagen dem Amt offenbar auch Hinweise auf psychische Probleme des Vaters vor.

Als sich die eigentlich geplante Rückkehr des Kinds an die Mutter im vorigen Herbst wegen ausstehender Gutachten verzögerte, kam es beim Angeklagten wohl zu einer Überreaktion: Nach Durchlesen eines entsprechenden Briefs sei er zornig geworden, habe "ziemlich düstere Gedanken" gehabt und regelrecht auf Rache gesonnen, sagte er auf entsprechende Fragen des Vorsitzenden Thomas Denz. Bereits am Samstag vor der Tat habe er mit Blick auf den geplanten, aber nicht angemeldeten Besuch im Jugendamt am Montag, 6. November, ein Taschenmesser gekauft. Das nicht gerade als Mordinstrument bekannte Werkzeug mit einer acht Zentimeter langen Klinge wurde dann tatsächlich zur Tatwaffe, die gestern als "Asservat 3.8" auf dem Richtertisch lag.

Dass er während der Geiselnahme von den Unterhändlern der Polizei eine scharfe Schusswaffe gefordert hatte, dass er andererseits seinem Opfer irgendwann gesagt haben soll, es werde "alles gut" und sie komme nach Hause, dass er die Schnittwunden der Frau versorgte und dass er ein "Selfie" von sich und der bedrohten Frau per Handy an einen Bekannten schickte, macht auf Prozessbeobachter den Eindruck, dass der Geiselnehmer selber bei seiner Tat hin und hergerissen war. "Das war ziemlich unbedacht", sagte er gestern; zuvor habe er "tagelang nicht geschlafen".

Wie im Zuge des ersten Verhandlungstags bereits kurz angesprochen wurde, hatte der Angeklagte über längere Phasen seines Lebens immer wieder alkoholische Eskapaden, häufig mit anschließender polizeilicher Einweisung in die Psychiatrie, gehabt. Aus den Akten ergibt sich offenbar auch eine gewisse Suizidgefährdung. Lebenslauf und persönliche Verhältnisse des arbeitslosen Mannes sollen zu einem späteren Zeitpunkt im Verfahren erörtert werden. Nächster Verhandlungstag ist der 26. September.

Bernd Heimerl