Wolnzach
Eine unerschrockene Frau

Mechthilde Vieracker hisst kurz vor Kriegsende ein weißes Laken vom Kirchturm und verhindert Schlimmeres

08.04.2020 | Stand 02.12.2020, 11:34 Uhr
Aus den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 stammten die Einschusslöcher am Wolnzacher Kirchturm, die bis zu dessen groß angelegter Sanierung vor ein paar Jahren gut zu erkennen waren. −Foto: Archiv, Hammerschmid

Wolnzach - Es ist eine filmreife Geschichte: Vor 75 Jahren kreisen amerikanische Artillerieflieger am Himmel über Wolnzach, eine unerschrockene Frau trotzt der Gefahr, hisst wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs die weiße Fahne am Kirchturm - und rettet damit ihren Heimatort.

Erzählt haben die Tat der Mechthilde Vieracker zwei Wolnzacher, die mittlerweile auch nicht mehr am Leben sind: der einstige Schulamtsdirektor Alfons Siegmund und Altbürgermeister Anton Dost. Somit wird dieser Teil unserer Serie gleich zur mehrfachen Spurensuche zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Samstag, 28. April 1945, ist ein kalter und stürmischer Tag. So stürmisch wie das Unheil, das sich rund um Wolnzach zusammenbraut. Nachrichten über den Vormarsch der US-amerikanischen Truppen von West nach Ost verbreiten sich in diesen Kriegstagen wie ein Lauffeuer im Ort, die Menschen haben Angst. Viele verkriechen sich in ihren Bunkern, stapeln um sich herum - Duplizität der Ereignisse - die Lebensmittel, die noch kurz zuvor an die Bevölkerung ausgegeben wurden. Nachdem gerade eben eine SS-Einheit, die sich zuvor noch in Wolnzach eingenistet hatte, nun doch abgezogen ist, sollen jetzt auch noch Schuhe aus den Geschäften an die Leute verteilt werden. Aber dann bricht jede Ordnung zusammen: Die Menschen stürmen die Läden, reißen die Schachteln aus den Regalen, hasten heim oder in die Keller, während die Amerikaner Wolnzach unter Beschuss nehmen. Es gibt sogar Todesopfer: "Vor dem damaligen Bierkeller an der späteren Josef-Schlicht-Straße wurden mehrere Wolnzacher und auch zwei französische Kriegsgefangene getötet", schreibt der bereits verstorbene ehemalige Schulamtsdirektor Alfons Siegmund in seinen Erinnerungen an diese Kriegstage. Erinnerungen, die nicht nur für ihn untrennbar mit einem Namen verknüpft waren: Mechthilde Vieracker.

44 Jahre war sie damals alt, unverheiratet. "Fräulein Thilde" genannt von allen, die sie kannten. Sie lebte im Haus direkt neben der Kirche, wo sie zusammen mit ihrem Bruder und dessen Frau eine Druckerei mit Ladengeschäft betrieb. An diesem Apriltag vor 75 Jahren war sie auf den Kirchturm gestiegen, um Ausschau zu halten nach den amerikanischen Einheiten, die sich von Königsfeld über Starzhausen und Gosseltshausen nach Wolnzach vorarbeiteten. Ein Artillerieflieger kreiste über dem Ort.

Kurz nach Mittag stieg sie herab, um sich einen Mantel zu holen, als das Inferno über Wolnzach hereinbrach: Ein Granatenhagel ging pfeifend und heulend nieder, die Artillerie feuerte, Schüsse schlugen genau dort ein, wo Thilde Vieracker noch kurz zuvor ausgeharrt hatte. Den Mantel in der Hand, kehrte Thilde Vieracker zurück ins Haus, aber nicht, um Schutz zu suchen: Sie nahm ein weißes Laken, kletterte den Turm wieder hinauf und hisste das Laken wie eine weiße Fahne. Das Feuer wurde praktisch sofort eingestellt.

"Das, was das Fräulein Thilde damals gemacht hat, war eine gewaltige Tat der Tapferkeit", schrieb einst Alfons Siegmund. Auf seine Anregung hin hatte der Markt Wolnzach die damalige Schmellerstraße in "Mechtild-Vieracker-Straße" umbenannt. Eine Gedenktafel, angebracht an ihrem Wohnhaus, hatte der ebenfalls bereits verstorbene Wolnzacher Altbürgermeister Anton Dost 1985 enthüllt, damals noch im Beisein von Thilde Vierackers Bruder Josef. Auch er hatte sich noch gut an die selbstlose Frau erinnert, die für ihn eine "echte Heldin" war: "Das, was diese Frau für uns getan hat, ist unschätzbar", sagte er einst auf Anfrage unserer Zeitung.

Eine Gedenktafel, eine nach ihr benannte Straße in Wolnzach - in diesen Tagen, da sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal jährt, erwecken diese Spuren bei vielen Menschen Erinnerungen. Gerade in Zeiten der Coronakrise erwachen aber auch noch andere Bilder: an Zeiten der Unsicherheit und der Angst, aber auch der Hoffnung, der Zuversicht und des Wiederaufbaus. Spuren davon finden sich auch in alten Zeitungsarchiven, darunter auch solche, die die Verzweiflung vieler Familien über das ungewisse Schicksal ihrer im Krieg vermissten Söhne, Ehemänner, Väter oder Brüder erahnen lassen: "Welcher Kamerad kann Auskunft geben? " Unzählige Anzeigen mit dieser Texteinleitung finden sich in den alten Zeitungsausgaben; sie sprechen von der Hoffnung der Angehörigen, von Heimgekehrten irgendetwas über das Schicksal der Vermissten erfahren zu können.

Aber in den gleichen Zeitungen sind auch andere Zeilen zu lesen, solche, die schmunzeln lassen. Ein paar Beispiele dazu: Am 13. August 1946 berichtete der DONAUKURIER dies unter der Überschrift "Um den blauen Dunst": "Das Wirtschaftsamt versandte kürzlich an zahlreiche Betriebe der Stadt Pfaffenhofen Zuweisungen aus einem Sonderkontingent für den Bezug von 20 Zigarren zum alten Preis für Männer; wer schnell genug war, konnte die Zuweisung auch wirklich einlösen. " In der gleichen Ausgabe findet sich auch etwas für die Hausfrau, die Rollenverteilung war damals klar definiert: "Soweit die Trockenmilchbestände bei der Zuteilung nicht ausreichen, ist an die Verbraucher amerikanische ,Ice Cream' in Pulverform ausgegeben worden. Unsere Hausfrauen haben sich mit diesem gelben Eiskrempulver rasch befreundet. Denn sie merkten, es ist wunderbar süß, es enthält Zucker und Rahm. Mit Wasser vermischt und gequirlt schmeckt es vorzüglich, auch als Zutat zu Haferflocken. Und die Hauptsache: Es ist auch nahrhaft. "

Und dann stand zu dieser Zeit ja auch noch die Hopfenpflücke bevor, auch dazu ist in den alten Zeitungen etwas zu finden: "Anfang kommender Woche wird die Hopfenernte in der Hallertau beginnen. Außer den ortsansässigen Erntehelfern werden noch zirka 30000 Hopfenpflücker benötigt. Die Hopfenpflückerverteilungsstätte Wolnzach-Bahnhof, die heuer wieder den Einsatz für die gesamte Hallertau leitet, ist bereits geöffnet. Die Fahrtauslagen für die Hopfenpflücker werden ersetzt, der Pflückerlohn bei freier Unterkunft und Verpflegung beträgt für eine Tagesleistung bis zu drei Metzen je 0,50 Mark, bei einer Tagesleistung von vier Metzen angefangen je 0,70 Mark für den Metzen. Ohne Unterkunft und Verpflegung erhöht sich der Lohn um je 0,30 Mark. "

WZ