Schweitenkirchen
Ein Stück Japan in Sünzhausen

Bei der vhs-Aktion "Weltreise durch Wohnzimmer" lernen die Gäste Sitten aus dem asiatischen Land kennen

09.10.2019 | Stand 25.10.2023, 10:26 Uhr
Aiko Polster zeigt ihren Gästen Fotos aus ihrer japanischen Heimat. Ihre Töchter Clara Michiu, 5, und Sophie Koyuki, 9, tragen eigens für diesen Abend Kimonos. −Foto: Herchenbach

Sünzhausen (PK) Drei Fauxpas, und das schon in den ersten Minuten! Die erste Unhöflichkeit: zehn Minuten zu spät kommen - ein absolutes No Go. Dann nicht die Schuhe ausziehen und mit den Straßentretern über die ausgelegten Reisstrohmatten latschen - dreist! Und schließlich das Teegebäck und die Reisbällchen begeistert loben: "Mmh, sehr lecker!" Plumper und indiskreter geht es kaum noch.

Aber Aiko Polster, 42, nimmt's nicht krumm. Schließlich lebt die Japanerin schon seit 16 Jahren in Landkreis. Im Rahmen der vhs-Reihe "Weltreise durch Wohnzimmer" in Kooperation mit der Caritas und der Stadt trafen sich diesmal neun Globetrotter in der guten Stube der Familie Polster.

Aiko hat vor zwölf Jahren geheiratet und den Namen ihres Mannes, 38, angenommen. Aber die drei Töchter, die alle hier geboren sind und in Pfaffenhofen zur Schule gehen, haben zwei Vornamen: einen deutschen und einen poetisch-japanischen. Die Neunjährige heißt Sophie Koyuki, das "Schneeflöckchen". Helena, sieben Jahre alt, hört auch auf den Namen Kyoko, "Aprikosenkind". Und Clara heißt mit zweitem Vornamen Michiu, "Vollmond".

Die Eltern erziehen ihre Kinder zweisprachig: Der Vater spricht mit ihnen Deutsch, die Mutter konsequent - denn sonst funktioniert das nicht - Japanisch. Aiko (übersetzt: liebes Kind) Polster bringt ihnen auch die Schrift ihrer Heimat bei: Am Wohnzimmerschrank hängt eine Schultafel mit Schriftzeichen. Für Europäer hoch kompliziert: Die Japaner haben das chinesische Schriftsystem übernommen, diese Kanji-Zeichen mit Hiragana-Symbolen ergänzt, die für Silben stehen, und schließlich Katakana-Zeichen eingeführt, um ausländische Begriffe und Fremdwörter schreiben zu können. Und damit es den Töchtern auch Spaß macht, haben sie Bilderbücher mit japanischen Texten.

Japan in Oberbayern - bei Aiko Polster haben sich Sitten aus ihrer Heimat abgeschliffen. Sie begrüßt ihre Gäste mit Handschlag, in Japan ein Unding. Da verbeuge man sich, die Hände an der Hosennaht, tief. Und noch tiefer, wenn das Gegenüber ranghöher ist. Auch die eleganten Kimonos, die ihre Töchter zur Begrüßung der Gäste tragen, sind denen offensichtlich arg unbequem. Nach einer halben Stunde verschwinden sie in ihre Kinderzimmer und schlüpfen in bequemere Sweatshirts.

"In meiner Heimat gibt es ein Elite-Denken", erklärt Aiko Polster. Das ist sogar am Spielzeug zu erkennen. Auch japanische Kinder haben so etwas wie eine Puppenstube, aber statt "Vater-Mutter-Kind" spielen sie Hochzeit. Die 42-Jährige klappt ein Leporello auf. Ganz oben thronen Prinz und Prinzessin in prächtigen Gewändern, auf den Stufen darunter der herausgeputzte Hofstaat, und unten aufgereiht sind wertvolle Geschenke und edles Mobiliar. Den drei Polster-Mädels macht Origami offensichtlich mehr Spaß: In einer Holzschale liegen aus buntem Papier gefaltete Figuren, Schwäne und Schweine.

 

Das Paar hat sich vor 20 Jahren übers Internet beim Chatten kennengelernt, beide schwärmten für elektronische Musik. 2003 verließ Aiko Omori ihre Heimatstadt Nichinan ganz im Süden von Japan und folgte ihrem zukünftigen Mann in den Landkreis. Jetzt hat sie über dem Kamin ein Netz gehängt, an das Fotos ihrer Heimat geklammert sind, die sie ihren Besuchern erläutert: Nichinan, "eine Stadt von ähnlicher Größe wie Ingolstadt", liegt am Meer. Um die 26 Grad hat es da und eine hohe Luftfeuchtigkeit. "Wir waren mal in Venedig", sagt Aiko Polster. "Da fühlt es sich für mich zu 60 Prozent wie zu Hause an. Um Heimat zu spüren, muss ich nicht nach Japan fliegen."

Anfangs war es für sie in dem Holledauer 350-Seelen-Dorf schwierig. Das erste, was ihr in Sünzhausen auffiel: "Hier ist es abends dunkel." Ihre Besucher stutzen: Ist es in Japan etwa abends hell? Nein, "aber bei uns sind alle Straßen beleuchtet". Und der zweite Punkt: Man kommt nicht weg aus dem Dorf, wenn man kein Auto hat. Japan habe beim öffentlichen Nahverkehr eine dichte Infrastruktur. Um hier vom Dorf in die zehn Kilometer entfernte Kreisstadt Pfaffenhofen zu gelangen, ist man zweieinhalb Stunden unterwegs: mit dem Bus nach Freising, von dort mit dem Zug nach München, dann umsteigen nach Pfaffenhofen. Man kann auch den Bus morgens um 6.30 Uhr nehmen und um halb eins wieder zurückfahren. Dann geht's in 16 Minuten. Aiko Polster hat deshalb den Führerschein gemacht, aber sie fährt nicht gern: "Die Autos fahren zu schnell." In Japan ist in Städten Tempo 30 vorgeschrieben, auf den Autobahnen muss man bei 80 Stundenkilometern den Fuß vom Gas nehmen.

Was ihr gefällt: Das Leben hier ist legerer als in Japan, auch wenn ihr Mann, ein gebürtiger Tegernseer, sagt, es gäbe viele Gemeinsamkeiten zwischen Deutschen und Japanern: Pünktlichkeit, Fleiß, Gründlichkeit, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft. Aber der Fleiß habe in Japan seine Schattenseiten: "Dort wird gearbeitet, bis man tot umfällt", sagt Aiko Polster. In aller Frühe fährt man zur Arbeit, und selbst wenn der Job erledigt ist, bleibt man, wenn die Kollegen noch zu tun haben. "Schwäche wird nicht zugegeben", sagt die 42-Jährige. Urlaub zu nehmen ist verpönt, "Japanern fällt es schwer, die Freizeit zu genießen", sagt Aiko Polster. Vielleicht gönnt man sich mal eine Woche.

Warum denn die japanischen Touristen so viel fotografieren, will eine Besucherin wissen. "Damit sie den Lieben daheim zeigen können, wo sie waren", erklärt sie. Auch beim Kurztrip dominiere der Leistungsgedanke. Europe in five Days: Berlin, Paris, Bern, Rom, Madrid - dann werden wieder klaglos die Ärmel hochgekrempelt. Japaner, sagt Aiko Polster, zeigen keine Emotionen. "Ich liebe Dich", sagt sie, "das ist viel zu massiv." "Sagst du auch selten", pflichtet ihr Mann bei. Woran er denn merkt, dass seine Frau ihn liebt? "So wie sie mit mir redet." Diskrete Zurückhaltung ist Trumpf. Auch daran musste sich Aiko Polster gewöhnen: Den Deutschen liegt das Herz auf der Zunge, "die erzählen viel von sich selbst".

Für ihre Besucher hat sie Scones zubereitet, ein Teegebäck mit Pulver aus grünem Tee und Bällchen aus Klebereis mit fein geschnittenem Gemüse. Außerdem Makronen aus Haferflocken. Ein japanisches Rezept? Nein, ein deutsches. Dazu reicht sie in Schälchen Grünen Tee.

Die Japanerin ist hier angekommen, zehnmal hat sie die 10.000-Kilometer-Flugstrecke nach Fernost mit ihrer Familie hinter sich gebracht. Jetzt ist das Heimweh verflogen. "Schatz", fragt ihr Mann, "wann waren wir zuletzt in Japan?" "Vor vier Jahren", erwidert Aiko Polster und fügt gleich hinzu: "Aber vorläufig fliegen wir erst mal nicht wieder hin."
 

Albert Herchenbach